Am 22. Februar 1945 fallen etwa hundert Bomben auf Mögglingen. Außer einem Bauernhaus wird nichts getroffen. Wurde das Dorf absichtlich verschont?

Mögglingen - Siebzig Jahre sind vergangenen, aber die Distanz ist für Paul Kuhn noch immer gering – räumlich und im Kopf. „Genau hier hat das Gebäude einen Volltreffer bekommen.“ Hinter ihm, keine 50 Schritte vom Fenster seines Esszimmers entfernt, steht sein Elternhaus noch heute. Bis zu dem Tag, an dem sich alles änderte, ragte das Bauernhaus weit in den Hof hinein. Jetzt deutet Kuhn auf einen leeren Platz zwischen seinem neuen und dem alten Haus, wo bis zum Bombenangriff der Anbau für die Landwirtschaft stand.

 
Paul Kuhn Foto: Gottfried Stoppel

Wer dem ehemaligen Skilehrer in sein glattes Gesicht schaut, käme nicht auf den Gedanken, dass dieser Mann den Krieg miterlebt hat. Wenn Kuhn erzählt, muss er sich immer wieder räuspern, so versucht er, seine wackelige Stimme zu kontrollieren. Er war fünf, als die Bombe sein Elternhaus in Mögglingen traf. Als der große Knall kam, war die Familie gerade fertig mit dem Mittagessen. Der Geschmack von gelben Rüben und Spätzle hat sich tief eingeprägt.

Kurz nach ein Uhr mittags hören die Kuhns das tiefe Brummen einer Bomberstaffel direkt über ihrem Haus. Der Vater und die älteren Schwestern sind schon wieder draußen bei der Arbeit. Zusammen mit seinem Bruder klammert sich der junge Paul auf dem Sofa im Wohnzimmer an die Mutter, alle drei beten. „Dann fing es mit Blitzen an, und den Krach kann man sich nicht vorstellen.“ Die Scheiben der Fenster ringsum fliegen den Kuhns um die Ohren, zerschneiden ihre Haut. Alles ist voller Rauch und Staub. Die Sprengbombe reißt den vorderen Teil des Hauses ein, im Wohnzimmer kracht ein Teil der Decke herunter. Noch schlimmer als der schmerzende Lärm während dieses Infernos ist die Totenstille danach. Die kahlen Bäume rund ums Haus hängen voller Häute und Felle der zerfetzten Viehkadaver. Nichts sieht aus, wie es vorher war. Die Familie sucht in den Schuttbergen nach dem fehlenden Vater, sie gräbt ihn aus. Er hat schwere Kopfverletzungen.

Die Bomben werden von den Äckern verschluckt

Josef Kuhn kommt ins Schwäbisch Gmünder Spital. Er ist der einzige schwer verwundete Mögglinger an diesem Tag, das Haus der Familie Kuhn das einzige mit einem Volltreffer. An den Häusern in der Nachbarschaft sind Scheiben geborsten, hier und da Dachziegel kaputtgegangen.

Etwa hundert Bomben fallen an diesem Tag auf Mögglingen, die meisten davon werden von den Äckern am Südrand des Dorfes verschluckt. Das Schicksal der Familie Kuhn mit ihrem Bauernhaus am Ortsrand lässt die Mögglinger erahnen, was ihnen geblüht hätte, wenn die Bomben das Dorf getroffen hätten. Die Stille nach dem Angriff füllen schon bald die diskutierenden Dorfbewohner, ihre Erleichterung mischt sich mit der Frage: Was war der Grund für diesen merkwürdigen Angriff?

Noch heute beschäftigt das die Mögglinger. Besonders quälend ist die Ungewissheit für Alfred Hudelmaier, den pensionierten Rektor der Dorfschule.

Als zwölfjähriger Schüler ist er an jenem 22. Februar 1945 am Mittag mit seiner Jungenbande unterwegs. Die Gruppe ist auf einer Anhöhe außerhalb des Orts angekommen, als es plötzlich brummend laut wird. Aus Richtung Aalen ist der Himmel gesprenkelt von schweren Maschinen, Bomber, die von Osten gen Südwesten, in Richtung des Rosensteins, unterwegs sind. Die Kinder beobachten, wie ein Anführerflugzeug eine Zielmarkierung abwirft, im Volksmund wegen seiner Leuchtkraft „Christbaum“ genannt. „Wir hatten furchtbare Angst. Unsere Angehörigen waren ja im Dorf, und wir haben befürchtet, dass jetzt das Dorf bombardiert wird.“ Doch der „Christbaum“ fällt nicht in Richtung Bahngleise, Hauptstraße, Ortsmitte, sondern geht am südlichen Ortsrand nieder. „Wir hatten großes Glück, denn von Mögglingen wäre nichts mehr übrig geblieben, wenn die alle hereingekommen wären.“

Die romantische Version der Geschichte

Alfred Hudelmaier kümmert sich als ehrenamtlicher Archivar um die Geschichte des Orts. Jede freie Stunde sitzt er am Tisch mitten in einem voll gestellten Raum des Dorfhauses, an den Wänden reichen die Regale mit alten Chroniken bis an die Decke. Präzise und reflektiert schildert der 82-Jährige aus der zeitlichen Entfernung seine Erinnerungen. Oft ist Hudelmaier den 22. Februar 1945 noch einmal durchgegangen. „Psychisch ist das alles längst abgearbeitet“, sagt er. Aber eine Frage lässt ihn schon fast sein ganzes Leben nicht mehr los: „Ist da eine Person gewesen, die veranlasst hat, dass Mögglingen überlebt hat?“

Alfred Hudelmaier Foto: Gottfried Stoppel

Diese romantische Version schwirrt nicht nur durch Alfred Hudelmaiers Kopf, sie schwebt über dem Dorf. Was wäre das für eine Geschichte! Mögglingen, das Dorf zwischen Aalen und Schwäbisch Gmünd, aus Erbarmen verschont – obwohl es im Ort und ringsrum durchaus kriegsrelevantere Objekte gibt als ein Bauernhaus und leere Äcker. Die Verkehrswege waren ein strategisch wichtiges Ziel der Alliierten im Kampf gegen die Nazis, und mitten durch den Ort führt die Bahnlinie, parallel dazu verläuft die heutige Bundesstraße 29.

Es ist die Geschichte vom barmherzigen Kommandeur. Alfred Hudelmaier ist kein Träumer, aber er hängt an ihr.

Sehnsucht nach einer Antwort

Bis heute wird in Mögglingen über verschiedene Thesen diskutiert. Wenige Tage vor dem Ereignis quartierte sich in ein paar Privathäusern ein deutscher Truppenteil ein, der auf dem Rückzug war: Wollten die Alliierten das verschanzte Militär ausbomben? Oder vermuteten die Amerikaner hinter den Mauern der Miederwarenfabrik einen Rüstungsbetrieb? Die Zielmarkierung fällt unweit dieses Gebäudes, doch keine einzige Bombe trifft die Fabrik, die umringt ist von Wohnhäusern. Die mangelnde Präzision macht stutzig.

Und dann gibt es die These, die Paul Kuhn lange vertrat: Die schwer beladenen Bomber sind zu diesem Zeitpunkt schlicht gezwungen, irgendwo abzuladen, weil sie es noch zu ihrem Heimatflughafen zurückschaffen müssen. Aber warum lassen die Amerikaner die Bomben dann nicht zwischen Mögglingen und Essingen fallen, wo die Straße und die Bahngleise liegen? Wie plausibel ist es, dass es sich die Alliierten in diesen entscheidenden Wochen des Krieges leisten, die Bomben mit Absicht in leere Felder fallen zu lassen?

Paul Kuhn hat die Varianten mit Familienmitgliedern schon zigmal durchgekaut. „Wenn man das so anguckt, muss man sagen: Vielleicht gab es doch einen Kommandanten, der Skrupel hatte.“ Wer weiß, was im Kopf eines Einzelnen an diesem Tag vor sich gegangen ist? „Wäre schön, wenn wir den Mann kennen würden und seine Meinung hören könnten“, sagt Kuhn.

Die Sehnsucht nach einer Antwort bringt Alfred Hudelmaier und mich, die aus Mögglingen stammende Journalistin, vor etwa drei Jahren an den Besprechungstisch des Dorfarchivs. Gemeinsam wollen wir recherchieren. Ich kann gut Englisch, das weiß Hudelmaier von meinem Vater, zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister in Mögglingen. Und mir gefällt die Geschichte vom ungelösten Geheimnis meines Heimatorts. Jetzt wollen wir direkt von den Amerikanern mehr über die Umstände erfahren: Was war an diesem Tag das Ziel der Alliierten?

Der Brief aus Maryland

Am Ende der Suche liegt ein Umschlag in meinem Briefkasten. Das Anschreiben datiert vom 28. März 2012, losgeschickt in College Park, Maryland. Die sieben Seiten stammen ursprünglich aus dem Büro des Generals, unter dessen Kommando die Mission am 22. Februar 1945 stand. Schon am Tag nach dem Angriff wurden sie fein säuberlich mit Schreibmaschine geschrieben. Auf fast jeder Seite mahnt am oberen Rand das Wort „Secret“. Es ist inzwischen entkräftet, offenbar von Hand durchgestrichen. Ein Stempel auf der ersten Seite und ein handschriftlich eingetragenes Datum verraten: am 29. Juni 1977 wurde die Geheimhaltung aufgehoben. Jetzt halten wir, die Menschen im ehemaligen Feindgebiet, die internen Unterlagen zur Kriegsführung in unseren Händen.

Als Alfred Hudelmaier und ich ins Mögglinger Dorfhaus einladen, um die Ergebnisse zu präsentieren, reichen die Stühle für die Besucher nicht aus. Mehr als 120 Menschen kommen in den Saal, um unseren Vortrag zu hören. Im Publikum sitzen etwa zehn Zeitzeugen und neben den Kindern der Kriegsgeneration auch ganz junge Mögglinger. Manche haben ihre persönliche Verbindung zum 22. Februar 1945, einige sind schlicht neugierig auf unsere Geschichte.

„Offensichtlich wurde Ihr Ort als Folge eines Angriffs auf Aalen getroffen“, schreibt Timothy Nenninger, der amerikanische Archivmitarbeiter, der nach meiner Anfrage die Unterlagen in Maryland durchsucht. Sein Anschreiben ist knapp, er überlässt die Dokumente unserer Interpretation. Der 22. Februar war ein Teil der amerikanischen Großoffensive im Februar 1945, eine Woche zuvor hatte Dresden vier Angriffswellen erlebt, die in die Geschichte eingingen. Am 23. Februar stand Pforzheim in Flammen. Was wir aus dem Archiv bekommen, ist der taktische Bericht der Mission. Ein Einblick in das, was die Amerikaner vorhatten und was am Ende dabei herauskam. Eine dicht bestückte Tabelle spaltet die Mission in Zahlen: Flughöhen, Angriffsdauer, Uhrzeit.

Eine Internetrecherche zerschlägt die Hoffnung

Wie erwartet, ist Mögglingen auf keiner der angehängten Seiten als vorab ausgemachtes Ziel angegeben. Die Städte Gera, Zwickau, Hof, Saalfeld, Arnstadt, Bamberg, Kitzingen stehen mit ihren Rangierbahnhöfen und Eisenbahnknotenpunkten ganz oben auf der Liste. Als „Ziele zweiter Klasse“ gelten Forchheim und Ansbach. In die letzte Kategorie fallen „last resort targets“, Reserveziele: „Alle Rangierbahnhöfe, Eisenbahnbrücken oder Eisenbahnstrecken, die mindestens zehn Meilen östlich der Bombardierlinie liegen“. Die Vermutung vieler Mögglinger trifft zu: Die Amerikaner sind an diesem Tag auf entscheidende Verkehrsinfrastruktur aus.

Unter den Auswertungsbericht hat Earle E. Partridge seine Unterschrift gesetzt, der befehlshabende General der Mission. Es ist der einzige Name, der in den Dokumenten auftaucht. Eine kurze Internetrecherche zerschlägt unsere Hoffnung, dass da noch jemand ist, der uns hinführen könnte zu dem einen Kommandeur, der als Anführer der Staffel mit einem Angriff auf das Dorf haderte. General Partrigde lebt seit 1990 nicht mehr.

Dann, auf einem einzelnen Dokument, steht der Ortsname explizit: „Vier Bombengruppen mit insgesamt ungefähr 80 (Bomben, Anmerkung der Redaktion) landen im freien Feld direkt südlich des Orts Mögglingen, der sieben Meilen westlich von Aalen liegt.“ Das Publikum im Dorfhaus staunt nicht schlecht: Die Amerikaner wussten – zumindest im Nachhinein – vom kleinen Örtchen Mögglingen. Für Alfred Hudelmaier ist das mehr, als er in den vergangenen 70 Jahren zu erwarten wagte: Selbst diese Aktion, für den Kriegsverlauf völlig unbedeutend, ist minutiös festgehalten.

Das Grübeln geht weiter

An dieser Stelle halten Hudelmaier und ich unsere Präsentation an, denn in der Begründung für den Verlauf der Mission tauchen aus seiner Sicht eigenartige Sätze auf. Sie sind ein krasser Kontrast zu seinem Bild im Kopf von blauem Himmel und klarer Sicht: „Wegen extrem schlechten Wetters attackierten alle anderen Einheiten Gelegenheitsziele“ und „eine kleine Wolkenlücke über Aalen erlaubt eine zehnsekündige visuelle Synchronisierung des Umschlagbahnhofs“. Auch die Zeitzeugen im Dorfhaus können diese Beschreibung nicht verstehen: Keiner will sich an trübes, gar turbulentes Wetter erinnern.

Der Deutsche Wetterdienst kann mir keine konkreten Wetterdaten für Mögglingen zu diesem Datum schicken, ein Datensatz dokumentiert im rund 30 Kilometer entfernten Ellwangen keinen Niederschlag, nur schwachen Wind. In der Region soll die Wolkendecke den Großteil des Himmels bedeckt haben. Ein schöner Tag mit viel Sonnenschein klingt anders – doch turbulente Bedingungen auch.

Nach seiner ersten Euphorie über den amerikanischen Archivfund ist bei Hudelmaier die Ernüchterung zurückgekehrt. Monate nach der Präsentation sitzt er wieder an seinem Holztisch im Archiv. Sein zaghaftes Lächeln deutet auf gefühlte Ohnmacht hin. Er kann die Behauptung nicht akzeptieren, dass die amerikanische Luftwaffe wegen schlechten Wetters zufällig neben dem Dorf die Bomben abgeworfen haben soll. Das Grübeln geht für ihn weiter. „Ich stelle mir vor, dass das eine Notlüge war, das muss anders gewesen sein.“ Sein Bild im Kopf ist gestochen scharf: Sonnenschein, klare Sicht in jede Richtung.

Trügt Alfred Hudelmaier und seine Altersgenossen die Erinnerung nach all den Jahren? Oder waren die Verhältnisse unweit ganz anders? Gut denkbar, dass – wie so oft – am 22. Februar 1945 die Wolkendecke erst ab dem „Aalener Becken“ aufbrach und der Himmel in Richtung Remstal aufklarte, während über den Ellwanger Bergen und über dem Härtsfeld der Nebel hing. Nachdem die US-Airforce wegen schlechter Sicht auf Gelegenheitsziele ausweichen musste, hatte sie nach Aalen möglicherweise zum ersten Mal über Mögglingen freie Sicht und damit tatsächlich eine Wahl: Bomben auf das Dorf oder daneben. Eine These, die Platz lässt für eine bewusst humanistische Entscheidung.