Der Tübinger OB Boris Palmer galt bei den Grünen als der Mann mit glänzender Zukunft. Doch nach der Abwahl aus dem Parteirat wirkt er ungewohnt verunsichert. Er sucht seine Rolle.

Tübingen - Boris Palmer will jetzt erst einmal eine Auszeit nehmen von der Politik jenseits der Tübinger Stadtgrenze. Zum Landesparteitag der Grünen am vorigen Wochenende war er schon gar nicht mehr angereist, obwohl doch seine Partnerin Franziska Brantner für einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste zur Bundestagswahl kandidierte. Was auch umstandslos gelang, dank Palmers Hilfe, die darin bestand, dass er unsichtbar blieb und so niemanden auf die Idee brachte, den Ärger an der falschen Stelle abzuladen.

 

Seit der Tübinger Oberbürgermeister aus dem Parteirat der Bundes-Grünen geflogen ist, muss er eine Menge offener und versteckter Häme ertragen. Für den erfolgsverwöhnten und selbstgewiss auftretenden Palmer ist das eine neue Erfahrung, an der er schwer trägt. Angefeindet wurde er auch in Vergangenheit immer mal wieder, das hat er oft bewusst provoziert. Aber so allein wie in diesen Tagen stand er noch selten in der politischen Landschaft herum. Allein Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident, nimmt sich seiner an. „Boris Palmer ist ein sehr kluger Politiker mit Ecken und Kanten, die vielleicht einigen zu scharf waren“, tröstet er seinen Zögling, den er als Nachfolger im Vorsitz der Landtagsfraktion aufbauen wollte, ehe Palmer vor fünf Jahren das OB-Amt übernahm. Nun ist der 40-jährige Oberrealo im toten Winkel seiner Karriere angelangt.

Die Frage nach der sozialem Kompetenz

Dafür trägt er nach Ansicht seiner Gegner allerdings selbst die Verantwortung. Palmer sei ein Autist, sagt eine Abgeordnete aus der Landtagsfraktion. „Er vernetzt sich nicht, er stößt alle vor den Kopf, und er zeigt keine soziale Kompetenz“. Ein hartes Urteil, doch Palmer würde wohl gar nicht groß widersprechen, sondern nur andere Worte wählen. Tatsächlich klingt das bei ihm so: „Ich spinne keine Intrigen und mauschle nicht, ich kämpfe mit offenem Visier.“ Die Sache mit der sozialen Kompetenz sieht er anders. Er spricht von einer „Kulturbarriere“, die ihn vor allem vom Berliner Politikbetrieb trenne. Diese Sichtweise eint ihn wiederum mit Kretschmann, der die „sterilen Aufgeregtheiten“ der Bundespolitik nur mit einiger Anstrengung erträgt. Gemeint sind damit die taktischen Winkelzüge, die kurzatmigen Empörungen, die kaum den nächsten Tag überleben. Doch just diesen flüchtigen Fragen, sagt Boris Palmer, widme sich der Parteirat, das nach dem Vorstand wichtigste Parteigremium, mit Hingabe.

Ein Palmer wohl gesonnenes Mitglied des Parteirats berichtet: Der Boris müsse, wenn er nach Berlin zur Gremiensitzung wolle, morgens früh auf stehen, was die Laune nicht hebe. Dann laufe er ein, haue mit dem Gestus des viel beschäftigten Oberbürgermeisters ein Thesenpapier auf den Tisch und glaube auch noch, dass alle jubelten. So aber funktioniere Politik nicht.

Wie aber funktioniert sie? Man muss telefonieren, Allianzen schmieden und bei Leuten für die eigene Sache werben, die man für weniger intelligent hält als sich selbst. Palmer gehört mit Sicherheit zu den Intelligentesten in seiner Partei. Intelligenz freilich ist das eine, Klugheit das andere. Vor zwei Jahren Jahr präsentierte Palmer im Parteirat ein Papier, in dem er der Bundespartei angesichts von Umfragewerte bis zu 25 Prozent empfahl, programmatisch in die Mitte zu rücken. Viele Leute bekannten sich neu zur Partei; sie sollten, so Palmer, dauerhaft an die Grünen gebunden werden. Eigentlich logisch. Einmal mehr aber packte er in das Papier einige steile Thesen, etwa, dass das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare weit von der Mehrheitsfähigkeit in der Bevölkerung entfernt sei. Seither gilt er den Grünen als „Schwulenhasser“. Der Vorwurf geht fehl, doch er hängt ihm in den Kleidern.

Plötzlich Hassfigur

Teilen seiner Partei ist er nun selbst zur Hassfigur geworden, vor allem die Grüne Jugend grenzt sich bei der mühsamen Suche nach einem eigenen politischen Profil von ihm ab. Auch dass er schwarz-grüne Koalitionen partout nicht ausschließen will, machen ihm viele in der Partei zum Vorwurf – ausgerechnet ihm, der die Konservativen im Kampf um Stuttgart 21 triezte wie kaum ein anderer Grüner. Allein schon sein auf Facebook gestelltes Bekenntnis zu Katrin Göring-Eckardt als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl– zu einem Zeitpunkt, als die meisten Parteifunktionäre deren Sieg noch für abwegig hielten – brachte ihm böse Kommentare ein. Palmer behielt Recht, aber das verbessert seine Lage auch nicht. Denn er behält immer gern Recht. Standhaftigkeit und der Starrsinn dessen, der schon immer wusste, was Not tut, liegen eng beieinander.

Nach seiner gescheiterten Wiederwahl in den Parteirat ist Palmer erst einmal beleidigt. Und ungewohnt verunsichert. „Die Ansage, wir wollen dich nicht, war schon sehr deutlich“, sagt er. Die Türen in die Bundespartei sind zu, der Bundestag geht auch nicht, dort sitzt bald seine Partnerin. Und in der Landesregierung wartet vorläufig auch keiner auf ihn. „Palmer muss sich neu erfinden“, rät ihm einer aus der Landtagsfraktion. „Die Rebellennummer ist durchgenudelt.“ Allerdings haben die Grünen nicht viele Talente vom Schlage eines Palmer. Leute, die reden können, die Ideen haben und die eine OB-Wahl im ersten Wahlgang für sich entscheiden.

Beschimpft und ausgelacht

So wie in Tübingen, wo er Ende 2006 gegen die Amtsinhaberin Brigitte Russ-Scherer 50, 4 Prozent holte. Wie beliebt er in der Stadt noch ist, wird sich erst 2014 zeigen. Dass er erneut kandidiert, glauben viele. Er selbst antwortet nur indirekt: „Als Oberbürgermeister zu gestalten ist viel schöner als in der Opposition zu mäkeln.“ Immer wieder aber wird er von einer Welle aus Häme überspült. Das geht ihm unter die Haut. Er spricht von der Kehrseite der Bürgernähe, „offensichtlich haben manche vor einem Grünen weniger Respekt“. Als bei der Sanierung der Mühlstraße die Kosten aufgrund eines Messfehlers davon liefen, wurde Palmer beschimpft oder ausgelacht. Gegen City-Maut oder höhere Parkplatzgebühren brachten Altstadthändler sogar Plakate in Stellung. Derzeit wird dem OB das Thema Tempo 30 auf dem Innenstadtring um die Ohren gehauen. Und das, obwohl nicht er, sondern das Regierungspräsidium dies angeordnet hatte. „Ich hätte mich das gar nicht getraut“, räumt Palmer ein. Speerspitze der Kritik ist eine Facebook-Seite mit dem Titel „Gegen den Tempo-30-Wahnsinn in Tübingen“. Der Ton ist ruppig bis beleidigend, wenn von „grünem Gesindel“ die Rede ist. Palmer selbst spricht von einem „Shitstorm“. Die Tempo-30-Zone hat es sogar bis ins Kabarett geschafft. „Fahrgemeinschaft heißt in Tübingen Krabbelgruppe“, spottet die „Comedy Stube“. „Meinen Joghurt bringe ich wegen der Haltbarkeit zu Fuß nach Hause und hole dann das Auto“, heißt es oder „ich werde zum Fußgänger, weil ich es eilig habe“. Und Berlins Taxifahrer würden nicht in Palma de Mallorca Urlaub machen, sondern in „Palmer de Tübingen“.

Dabei fällt Palmers Bilanz in der Sache nicht schlecht aus. Kleinkindbetreuung, sozialer Mietwohnungsbau, Ökostromkunden, Finanzen – alles Punkte, bei denen Tübingen gut abschneidet. Paradox ist, dass Palmer dort am meisten aneckt, wo er am wenigsten getan hat: beim Innenstadtverkehr. Doch fällt auf, dass es sich um virtuelle Attacken handelt. Ob bei der Einweihung der laufenden Verkaufsmesse „Chocolart“ oder bei seinem Auftritt in der „Comedystube“ – der Beifall ist warm bis überschwänglich. Ablehnende Pfiffe bleiben aus. Jubel statt Buhrufe wird es für Palmer sicher irgendwann auch wieder auf Landes- oder Bundesebene geben. Denn solange wie sein Vorvorgänger wird Palmer kaum in Tübingen bleiben. Eugen Schmid war 24 Jahre lang in Amt und Würden.