Zum Schluss hat Wladimir Klitschko nur noch mit sich selbst gekämpft. 69 Tage nach seinem spektakulären WM-Duell mit Anthony Joshua steht jetzt fest: Der 41-Jährige beendet seine Karriere. Er hinterlässt eine Lücke.

Sport: Heiko Hinrichsen (hh)

Stuttgart - Good Old Wembley, das nach britischem Verständnis das Mekka des Profiboxens beheimatet, wackelte unter dem Gebrüll der enthemmten Fans in den Grundfesten, als Ringrichter David Fields Wladimir Klitschko schützend an die Brust drückte. Nach 145 Sekunden in Runde elf war der leicht ergraute Ringfuchs am Ende. Dreimal war der heldenhafte Klitschko schon zu Boden gegangen, hatte den Widersacher Anthony Joshua seinerseits in Runde sechs kurz in den Ringstaub geschickt – nun baumelte er verteidigungsunfähig in den Seilen.

 

Natürlich haben die Boxsportfreunde von der Insel, eine 90 000-köpfige, zu gehörigen Teilen vom Bier beseelte Masse, am Abend des 29. April bei Temperaturen um die zehn Grad zunächst ihren neuen Giganten des Faustkampfes ausgiebig gefeiert. Schließlich ist der 27 Jahre alte Anthony Joshua als IBF-Weltmeister im Schwergewicht diesem epischen Boxduell als Britanniens neuer Sport-Darling entstiegen. Schnell machte sich aber im weiten Rund des Wembley-Stadions beim fachkundigen Publikum auch große Bewunderung breit für diesen muskolösen Kerl aus der Ukraine, der mit Wohnsitzen in Los Angeles, Hamburg und Kiew längst ein Weltbürger ist.

Klitschko knockte in seiner Karriere 54 Gegner aus

Und so markiert der Kampf gegen Anthony Joshua eine ganz spezielle Schlussnote in der glanzvollen Karriere des Wladimir Klitschko. Denn dem Boxliebling der Deutschen flog in jener Nacht erstmals die große, weltweite Zuneigung des Publikums und auch die vieler bedeutender Kämpfer wie Lennox Lewis, Mike Tyson oder Evander Holyfield zu; ausgerechnet an einem Abend also, an dem jener Mann, der in seiner Karriere sagenhafte 54 Gegner ausgeknockt und die Rekordzahl von 29 WM-Kämpfen absolviert hatte, durch seine Niederlage gegen Joshua formal ein Verlierer war.

Den „großen Zeh Gottes“ hat der Schriftsteller Norman Mailer den Boxweltmeister im Schwergewicht einmal treffend genannt. Weil der professionelle Faustkampf seit jeher ein Publikum quer durch alle Schichten fasziniert – und weil den schweren Jungs einer Branche, die stets auch den Drahtseilakt zwischen dem Milieu und einem gigantischem Multi-Million-Dollar-Spektakel zu absolvieren hat, eben ganz besonders im Fokus stehen. Wenn zwei 1,98-Meter-Kolosse mit jeweils 105 Kilogramm Körpergewicht wie Joshua und Klitschko aufeinander prallen, dann kann mit einem Schlag alles vorbei sein.

Als die fünfte Niederlage in 64 Profikämpfen besiegelt war, da ist Wladimir Klitschko mit einem tiefen Cut über dem linken Auge noch lange durch den Ring in der Wembley-Arena gestiefelt. Als er dann die Treppenstufen hinab ins Publikum stieg, da drückte der Hüne länger als sonst diejenigen an seine Brust, die er zu seinen engsten Vertrauten zählen darf.

Klitschko hat sich für seine Entscheidung viel Zeit gelassen.

Dazu zählt nicht nur die Mutter seiner zweijährigen Tochter Kaya, die US-Schauspielerin Hayden Panettiere, sondern auch enge Freunde wie der Hotelier vom „Stanglwirt“ aus Going am Wilden Kaiser, wo der Champion zuletzt stets sein Trainingslager abhielt. Wer danach die Szene beobachtete, wie Klitschko auch den Schauspieler und Ex-Gouverneur von Kaliforniern, den „Terminator“ Arnold Schwarzenegger in einer Mischung aus Enttäuschung und Melancholie mit leicht wässrigen Augen umarmte, der konnte es sich eigentlich nicht mehr vorstellen, dass König Klitschko, der zwischen den Jahren 2000 und 2003 und danach zwischen 2006 und 2015 als Weltmeister das Schwergewicht dominiert hatte, noch einmal in einem Rückkampf die Fäuste fliegen lassen würde.

Und dennoch hat sich Wladimir Klitschko für seine Entscheidung viel Zeit gelassen. Wie im Profiboxen üblich, schmiedeten andere derweil eifrig Zukunftspläne. So träumte Eddie Hearn, der Promoter von Anthony Joshua, bereits von einem Rückkampf in Nigeria, der Heimat der Eltern des Weltmeisters aus Watford. Und Bernd Bönte, der langjährige Manager Klitschkos, der hielt noch Anfang Juli ein Duell am 11. November in Las Vegas für keinesfalls abwegig.

Ein großes Vermächtnis konnte Klitschko nicht erboxen.

Vermutlich war dies aber nur noch ein Ablenkungsmänover. Denn an diesem Donnerstag wurde es zur Gewissheit, dass es den Profiboxer Wladimir Klitschko nicht mehr geben wird. „Ich habe mir nach meinem letzten Kampf bewusst genügend Zeit genommen, um zu entscheiden“, erklärte Klitschko, der Olympiasieger von 1996, und zog einen Schlussstrich unter seine Karriere: „Ich habe als Amateur und Profi alles erreicht und kann jetzt gesund und zufrieden die spannende Karriere nach der Karriere angehen.“

Tatsächlich hat sich der promovierte Sportwissenschaftler längst neue Standbeine aufgebaut. So ist er unter anderem als Dozent im Schweizer St. Gallen an einer Privat-Universität tätig. Klitschko hat als Boxer rund 80 Millionen Euro allein an Kampfbörsen verdient und ist auch als Besitzer einer Hotelkette und als PR-Experte aktiv. Also zog auch Bernd Bönte den Hut vor seinem Freund und Geschäftspartner. „Wladimir hatte immer gesagt, wenn die Motivation nicht mehr da ist, werde er aufhören“, sagte der Manager. „Deshalb ist es jetzt definitiv der richtige Entschluss. Es war eine Ehre, ihn auf diesem einmaligen Weg zu begleiten.“

Hinter großen Namen verbarg sich oft wenig Leistung.

Dabei muss sich der Ukrainer, der mit dem älteren Bruder Vitali zwischen 2008 und 2012 sämtliche WM-Gürtel der vier bedeutenden Verbände WBA, WBC, IBF und WBO hielt, nicht den Vorwurf gefallen lassen, er wäre einem Gegner aus dem Weg gegangen. In Chris Byrd, Frans Botha, Lamon Brewster, Hasim Rahman, Samuel Peter oder David Haye hat Wladimir Klitschko sämtliche Kaliber seiner Ära geboxt. Dass sich dabei hinter den großen Namen oft wenig Leistung verbarg, ist nicht seine Schuld.

Ein großes Vermächtnis ließ sich mangels Klasse der anderen aber nicht erboxen. Gerade in den USA, wo man weiter verklärt den Zeiten der nationalen Ikonen wie Joe Louis, Muhammad Ali, Joe Frazier, George Foreman oder Mike Tyson nachtrauert, kamen die Klitschkos nicht an. Ihnen haftete dort lange das Image der tapsigen Ringbären, der Kalten Krieger aus dem Ostblock an.

Die großen Box-Zeiten in Deutschland sind vorbei.

In Deutschland verzückten die Brüder dagegen jahrelang die Massen. Allein den Kampf gegen David Haye sahen 15,6 Millionen Fans im Fernsehen. Schade also, dass Klitschko mit 41 Jahren just zu einer Zeit an seine physische Grenze stößt, in der ihm in Anthony Joshua ein Gegner von Weltformat erwachsen ist. „Es war ein Schwergewichtskampf für die Ewigkeit. Auch, weil Klitschko so großartig fightete“, schrieb der „Daily Telegraph“ nach dem Londoner Duell über jenen Mann, dem lange Jahre ein Glaskinn nachgesagt wurde. Gemeinsam mit Joshua, der jetzt seinerseits mangels starker Konkurrenz verlassen auf dem Box-Olymp thront, hätte Klitschko das schwächelnde Boxbusiness beleben können. Doch „Dr. Steelhammer“ fehlt nun der nötige Dampf in den Fäusten, um es noch mal mit dem 14 Jahre jüngeren Rivalen aufzunehmen.

Weil hierzulande die großen Box-Zeiten mit Henry Maske, Axel Schulz, Sven Ottke, Felix Sturm oder Arthur Abraham längst passé sind, wird man sich lange wehmütig an Wladimir Klitschko zurück erinnern.