Gossenkind, Zuhälter, Boxchampion, Knacki, Sozialarbeiter: die Mannheimer Legende Charly Graf wird 65 Jahre alt. Er sagt: „Ich komme klar, weil mir eh alles scheißegal ist.“

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Mannheim - Er sieht cool aus: Immer noch ein Schwergewicht jenseits der zwei Zentner, durchtrainiert, den Borsalino-Hut ins dunkle Gesicht gezogen. Ein dicker Glitzerohrring, braune Cordhose, weiße Turnschuhe. Dazu der Duft von Joop, ein 80er-Jahre-Klassiker mit Vanille und Patschuli als Basisnoten. Er geht noch sparsam um mit seinen Worten an diesem frühen Morgen. Gestern wurde es spät.

 

Charly Graf ist unterwegs im Mannheimer Jungbuschviertel, seinem früheren Operationsgebiet, wie er sagt. Hier reihten sich in den 70ern Puffs und Strip-Bars aneinander. Hier tummelten sich Lebewelt und Mafia, Huren und Luden. Typen wie Neunfinger-Heinz, Himbeer-Toni, Respekt-Franz (mit dem war nicht zu spaßen), Käsfuß-Walter oder Aspach-Harry (der lebt auch schon nicht mehr). Und mittendrin: Charly, „der braune Bomber“. Heute ist das Viertel zahm. Ein paar Überreste wie die verschlissene Leuchtreklame der Salome-Bar zeugen noch von den gierigen Jahren. In der Onkel-Otto- Bar war Charly Graf früher Rausschmeißer. Sie gehörte Fred, seinem Boxmanager. Inzwischen ist das Lokal modernisiert und seriös. Die Separees sind geblieben und verleihen der neuen Bar etwas vom alten Ruch der Sünde.

Früher war er Chef hier. Jetzt ist Graf Sozialarbeiter und auf dem Weg zur Sporthalle. Er trainiert Jugendliche aus den Mannheimer Problembezirken, geht in Kinderheime, Gefängnisse. Nicht, um neue Champions zu formen. Die Kids sollen sich bei ihm auspowern, fokussieren, unter Stress Regeln einhalten lernen. Und vor allem selbstbewusster werden. „In den sozialen Brennpunkten steckt meistens mehr Energie als in den Vorstädten. Die Frage ist nur, wie man sie einsetzt.“

Das Leben in den Benz-Baracken

Graf weiß, wie die Jungs ticken. Er war selber einer, der ohne Perspektive aufwuchs. Er boxte sich aus der Gosse zum Star und knockte sich dann selber aus. Stieg zum Rotlichtzampano auf und endete als Knacki. Wurde von einem RAF-Terroristen auf den rechten Weg geleitet, feierte seine Auferstehung im Ring und fiel erneut. Stand immer wieder auf. Am Mittwoch wird Charly Graf 65. Neulich war er beim Waldhof-Spiel. Bot ihm doch einer in der S-Bahn zum Stadion einen Sitzplatz an. „Das ist mir auch noch nie passiert.“

Auf die Welt kommt Charles Graf in den Waldhofer Benz-Baracken. Hier wohnen die Ausgestoßenen und Gescheiterten, die im Nachkriegsdeutschland die Kurve nicht kriegen und für die sonst nirgendwo Platz ist. Elisabeth Graf gehört dazu. Ihr Charly kommt unehelich zur Welt, eine Schande damals. Sein Vater ist ein dunkelhäutiger GI, der nach der Zeugung verschwindet.

Sie leben in einer 20-Quadratmeter-Bretterbude. Keine Heizung. Ein Klo und eine große Badewanne für 50 Leute. Seine Mutter schafft in der Schokoladenfabrik. Wenn sie abends heimkommt, schweigt sie und trinkt. Oma, Opa, Onkel, Tanten oder andere Verwandten gibt es nicht für Charly. „Meine Mutter muss irgendwie vom Himmel gefallen sein.“ Nur er und sie.

Stark, schnell, bissig

Jahrzehnte später sieht er zufällig eine alte TV-Doku über die Benz-Baracken. In einer kurzen Szene taucht plötzlich auch seine Mutter auf: Sie hat den zweijährigen Charly auf dem Schoß und wird von dem Reporter gefragt, ob sie ihr Kind nicht lieber weggeben wolle. „Nein“, sagt sie kaum hörbar. Aber wie sie sich denn die Zukunft für ihren Sohn vorstelle? Schweigen. „Da war so eine Hoffnungslosigkeit und Leere in ihrem Blick“, sagt Charly Graf. „Sie muss mich schon geliebt haben, sonst hätte sie mich ja nicht behalten.“

Mittwochs gibt es immer die Lohntüte. Der schlimmste Tag der Woche . Mittwochs kommt die Mutter sturzbetrunken und meist mit irgendeinem fremden Mann heim. Charly muss hinter den Vorhang im Zimmer, bis der Mann fertig ist. Einmal bringt sie gleich mehrere Männer mit. Was Charly hinter dem Vorhang hört, macht ihm Angst. Als der Sechsjährige seiner Mutter zur Hilfe eilen will, schlägt ihm einer der Männer brutal ins Gesicht.

Mit sieben tritt er in den Boxverein ein. Stark, schnell, bissig: Zum ersten Mal kann er was richtig gut. Nach der Hauptschule arbeitet auf dem Bau und in der Eisenschmiede. Aber als Schwergewichts-Boxer ist er wer. Das ist sein Weg. Mit 17 sein erster Profikampf: „Der braune Bomber“ gegen Lutwin Hahn. Charly gewinnt durch K. o. in Runde eins, triumphiert auch in den nächsten Fights. Sein Promoter sieht in ihm den „Schwarzen Diamanten“ und „Million-Dollar-Man“. Der „Playboy“ schreibt über ihn. „Zu siegen war schon irgendwie ein erotisches Gefühl“, sagt Graf.

Graf rutscht in die Unterwelt

An diesem Morgen trainiert er in der Jungbusch-Sporthalle zum ersten Mal mit Hartz-IV-Empfängern – acht Männer und Frauen zwischen 17 und 23 Jahren, die ohne Hilfe keine echte Jobchance haben. Vielleicht kann Graf ihnen etwas mitgeben. „Das wird kein großes Ding heute“, beruhigt er, „ihr sollt einfach Spaß haben.“ – „Müsse mir a seilhopfa? Weil des mach isch net!“, meint ein Mädchen. „Ihr müsst gar nichts. Jeder macht, was er kann.“ 15 Kniebeugen. Zehn Liegestützen. Allgemeines Keuchen. Dann einige Links-links-rechts-Kombinationen und leichtes Sparring, „aber alles ohne Härte!“ Die Mädchen kichern, ein junger Mann klinkt sich aus. „Hört mal zu, Kinder, ihr solltet schon alle richtig mitmachen, sonst macht’s ja euch keinen Spaß und mir auch nicht.“

Was keiner weiß: Von Kampf zu Kampf hat „Ali vom Waldhof“ mehr Angst. „Mir war insgeheim immer bewusst: Sobald ich beim Boxen scheitere, ist es mit der öffentlichen Anerkennung vorbei“, sagt Charly Graf. Wirklich dazu gehört er in den Benz-Baracken und im Milieu. Draußen in der bürgerlichen Welt bleibt er letztlich der Neger, der die schöne weiße Bettwäsche dreckig macht – ein Spruch seiner Schwiegereltern. Die Ehe geht in die Brüche und mit ihr die Beziehung zu seinem Sohn.

Graf rutscht in die Unterwelt, betreibt illegale Casinos. Kommt ihm jemand blöd, haut er ihn ins Koma. Er lässt Frauen für sich anschaffen. Wehe, sie parieren nicht. „Ich war ein egoistischer, asozialer Kotzbrocken ohne jedes Schuldgefühl“, sagt er. Ein Kotzbrocken, der jeden Monat Zehntausende Mark einsackt, dicke Mercedes fährt und seine niederen Instinkte bedient.

Im Knast ist Charly der Boss

Auf die erste Niederlage folgt der Karrierebruch. „Ich war der Aufgabe nicht gewachsen“, sagt Graf. „Wenn ein so leicht beeinflussbarer Mensch, wie ich es damals war, auf einen Ebby Thust und all die anderen Profilneurotiker in der Boxszene trifft, kann das nicht gut gehen.“ Als er zum ersten Mal einfährt, ändert sich gar nichts. Im Knast herrscht der Darwinismus. Und als Schwergewichtsboxer ist Charly der Boss. Er zettelt sogar eine Revolte an. Aus Wut, dass er keinen Freigang für einen Besuch bei der Mutter erhält, schreit er im Hof: „Solidarität! Solidarität!“ Plötzlich schreien Hunderte mit, ohne zu wissen, warum: „Solidarität! Solidarität!“ Die Sache eskaliert. Danach verlegt man Graf vorsichtshalber nach Stuttgart-Stammheim.

Dort steht ihm eines Tages der RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock gegenüber: „Warum bist du denn hier drin, du Zwerg?“ – „Und warum du, du vollgefressener Zuhälter?“ Graf überlegt kurz, ob er dem Zwerg gleich die Schnauze polieren oder noch warten soll. Er wartet. Sie werden Freunde.

Graf macht Boock körperlich fit, der Terrorist führt ihn zur Literatur. Hesses „Steppenwolf“: „Harry Haller, dieser Einzelgänger, hat mich fasziniert.“ Faulkners „Licht im August“: „Gleich zu Beginn wird da einer zum Mörder, ein fürchterlicher Mensch. Aber am Ende des Romans kann man ihn verstehen und mag ihn sogar ein bisschen.“ Dostojewski: „Von ihm hab ich gelernt, dass die spannendsten Geschichten die der kleinen Leute sind. Man muss ihnen nur gut zuhören.“

Beim Lesen wird Graf immer klarer, was für eine Type er eigentlich ist. Mit jedem Buch stellt er sich mehr infrage. Jedes Kapitel führt ihm schmerzhafter vor Augen, dass er das Gegenteil seiner Romanhelden ist. Er will anders werden. Zu sich selbst kommen. Und er will zurück in den Ring.

Er wird Hartz-IV-Empfänger

„Vertraust du mir?“ – „Ja.“ – „Lass dich nach hinten fallen.“ Die letzte Übung in der Sporthalle ist die schwierigste für die Jugendlichen. „Versuch’s noch mal, ich fang dich doch auf.“ Nach einer Stunde geht das Training zu Ende. Mehr ist für das erste Mal nicht ratsam. „Ich erzähl euch noch was: Als Kind war ich so ein großer Angsthase, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Ich bestand nur aus Angst. Aber man kann es schaffen, sich nicht von der Angst beherrschen zu lassen.“

1984 bestreitet in Deutschland erstmals ein Häftling einen offiziellen Boxkampf. Hochspannungsatmosphäre in der Schleyerhalle, es knistert förmlich. Alle Milieugrößen sind da. Justizbeamte schirmen Graf ab, eskortieren ihn in die Arena. Dann geht alles ganz schnell. Mit einem rechten Cross knipst er seinem Gegner, dem bis dahin unbesiegten Holländer André van den Oetelaar, in der zweiten Runde das Licht aus. Danach buchtet man ihn wieder ein. Er ist nun eine Legende.

Im März 1985 wird er deutscher Meister, acht Monate später verliert er den Titel. Der Kampf war geschoben, damit kann Graf nicht umgehen. Er lässt alles hinter sich und zieht ins Allgäu, wo er für einen Viehhändler Rinder in den Auktionsring führt. Manchmal schreien die Bauern: „Gibt’s den Neger dazu?“ Graf heiratet, wird Vater von zwei Kindern. Aber auch diese Ehe zerbricht. Charly kehrt zurück nach Mannheim und beantragt Hartz IV.

Ein SPD-Stadtrat als Retter

„Sollen wir noch kurz einen Abstecher zu den Benz-Baracken machen?“ Die Holzbuden von früher sind inzwischen Wohnblöcken gewichen. „Aber Ghetto ist hier immer noch“, sagt Graf und zündet sich eine Davidoff an. Auf einer Fassade steht in riesigen gesprayten Buchstaben: „Ihr denkt, wir sind nur Assis.“ Manchmal sitzt Graf hier beim Türkenimbiss und hält ein Schwätzchen mit alten Kumpels. Einer bremst mitten auf der Straße, steigt aus dem Auto, um Hallo zu sagen. „Alles paletti, Charly?“ – „Ajoo.“ – „Du hosch ledschdi Woch awwa net gud ausgseh.“

Das kleine weiße Haus stand da schon vor 65 Jahren. „Da wohnte der einzig seriöse Mann im Viertel. Der stand immer am Gartenzaun und guckte streng.“ Jonny lebt auch noch hier, „obwohl er kein typischer Barackler mehr ist“. Allein seine verwegene Kombination von turmhoher Afrohaube und breitestem Mannemerisch machte Jonny zum Unikum. Heute hat er ein kleines Dachdeckergeschäft.

Rainer kam aus der besseren Gegend ein paar Hundert Meter weiter. Er musste aber jeden Tag auf dem Schulweg an den Baracken vorbei. Und jedes Mal nahm Charly ihm das Pausenbrot ab. Rainer wurde Mannheimer SPD-Stadtrat und verschaffte Charly später eine Wohnung und den Sozialarbeiter-Job. „Gäb es Rainer Spagerer nicht, würde ich nicht mehr SPD wählen.“

„Ich komm klar, weil mir eh alles scheißegal ist“

Wie sieht seine Bilanz aus mit 65? Dass er Charly junior nicht so ein Vater sein konnte, wie er ihn selber immer gebraucht hätte, tut weh. Wie ist sein Leben heute? „Ich komm klar, weil mir eh alles scheißegal ist“, sagt Graf. Drei Dinge sind ihm doch wichtig. Erstens: das Training mit den Kids und allein im Studio. Zweitens: unter die Leute gehen. „Ich mag es, wenn mich die Leute ansprechen. Immer noch besser, wie wenn sie einen Bogen um mich machen so wie früher.“ Punkt drei: „Ich verliebe mich gern.“

Seine glücklichste Zeit? „Schwer zu sagen. Vielleicht heute, weil ich jetzt die Fähigkeit zur Reflexion habe. Aber ich hätte viel mehr aus dem Materiellen machen sollen.“ Er wohnt in einer kleinen Mietwohnung im Stadtteil Neckarau, 3. Stock. Wenn er aus der Haustür tritt, blickt er auf meterhohe Gefängnismauern. Dahinter hat er viele Jahre seines Lebens verbracht. Jetzt ist er auf der guten Seite. Vielleicht sind es die Antihelden, die den besten Stoff für Heldengeschichten abgeben.

Er kommt oft an den Ort zurück, wo in einer schäbigen Baracke seine Wiege stand. Wo er vor 63 Jahren auf dem Schoß der Mutter saß und sie keine Antwort auf die dreiste Reporterfrage fand, was aus ihrem Sohn mal werden soll. Er besuchte sie fast täglich bis zu ihrem Tod und schwieg ein bisschen mit ihr. Das war ihre Art, zusammen zu sein. Sie muss ihn geliebt haben. Und er sie. „Es klingt komisch“, sagt Charly Graf, „aber jedes Mal, wenn ich hier durchs Viertel streife, ist es wie Heimkommen.“