In einem bisher als Hotel genutzten Haus will die Stadt ein Wohnheim für 75 Flüchtlinge eröffnen. Um die Vorschriften zum Brandschutz zu erfüllen, werden Familien in den oberen Etagen einquartiert – und aus der Rechnung gestrichen.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Am 16. März 1994 starben im Haus an der Geißstraße 7 sieben Menschen nach einem Brandanschlag. Als „um 3.36 Uhr die Feuerwehr eintrifft, brennt das hölzerne Treppenhaus, der einzige Fluchtweg, wie eine Fackel“. So beschrieb es die Stuttgarter Zeitung. Das sechsstöckige Haus war mit 50 Bewohnern, vorwiegend Flüchtlingen, überbelegt.

 

Zur Jahresmitte will die Stadt an der Paulinenbrücke ein Flüchtlingswohnheim eröffnen. Sie mietet das sechsstöckige Haus. Die Caritas wird seine dann 75 Bewohner betreuen, aber nur sechs Monate lang. Danach werden die Fremden umziehen, und die Caritas wird ein Frauen-Wohnheim eröffnen. Über jene sechs Monate will niemand bei der Sozialorganisation sprechen, jedenfalls nicht mit der Presse. Ihr Sprecher Friedemann Müns-Österle lässt schriftlich wissen: „Selbstverständlich werden wir dann alle nötigen baurechtlichen Bestimmungen einhalten (Brandschutz usw.).“ Mit „dann“ ist der Tag gemeint, an dem das Wohnheim für 50 Frauen eröffnet.

Ab 60 Betten werden die Regelungen schon komplizierter

Der Gesetzgeber zählt Wohnheime zu den Beherbergungsbetrieben, genauso wie Hotels. Was den Brandschutz betrifft, ist für ihre Betreiber die Zahl 60 eine entscheidende Grenze. Bei Häusern mit mehr als 60 Betten gelten verschärfte Regeln. Die Vorschriften sind komplex. Grob gilt: Sofern die Feuerwehr an jedes Zimmer Leitern anlegen kann, darf nach Einzelprüfung auf einen sogenannten „baulichen zweiten Rettungsweg“ verzichtet werden. Gemeint ist ein zweites Treppenhaus.

Als die Pläne für Flüchtlings- und Frauenwohnheim im Bezirksbeirat erklärt wurden, meldeten sich Nachbarn zu Wort. Sie sagten, das Haus sei untauglich als Massenunterkunft, allein schon, weil 75 Flüchtlinge sich eine Küche teilen müssten. Nicht einmal der Brandschutz sei gewährleistet. Das einzige Treppenhaus bestehe aus Holz. Niemand nahm sie ernst. Zwei derjenigen, die sich zu Wort meldeten, besitzen im Erdgeschoss Gewerberäume. Veronika Kienzle, die Bezirksvorsteherin, sagte, es sei befremdlich, dass der Haupt-Hauseigentümer die Miteigentümer nicht informiert habe. Der Bezirksbeirat befürwortete beide Wohnheime einstimmig. Bei der Stadt herrscht Not. Wegen der Flüchtlingswelle sind Unterkünfte dringend gesucht.

Das Haus ist der Stadt schon lange wohlbekannt

In den Bauplänen des Hauses ist eine Küche eingezeichnet, 16 Quadratmeter groß. Es wird seit Jahren als Hotel betrieben, laut Werbung mit 37 Zimmern, in denen bis zu acht Betten stehen. Die billigste Übernachtung kostet 19 Euro. Ein Hinweis auf die Fluchtwege klebt an der Fassade: eine weiße Leiter auf rotem Grund.

Gemäß alter Akten ist am 2. Juli 2009 der Hotelbetrieb genehmigt worden. Dies ausdrücklich als „Interimsnutzung“. Das Haus war bei der Stadt wohlbekannt. Noch wenige Jahre zuvor arbeiteten in ihm Beschäftigte des Schulverwaltungsamts. Der Haupteigentümer wollte einst den Betrieb mit einem Neubau im Hof erweitern. Dies bestätigt Kirsten Rickes, die Leiterin des Baurechtsamts. Fragen zum Brandschutz zu beantworten, überlässt sie dem Liegenschaftsamt. Mit einer Verbindung von Alt- und Neubau wäre ein zweiter Rettungsweg möglich geworden. Die Baupläne wurden mit Datum vom 16. Mai 2011 eingereicht, aber nie verwirklicht.

Von zukünftigen Verbesserungen und Veränderungen

Für die Zeit der Flüchtlingsunterbringung „brauchen wir keinen zweiten Rettungsweg“, sagt Axel Wolf, Abteilungsleiter im Liegenschaftsamt. In den drei unteren Etagen sollen 53 Menschen wohnen, überwiegend junge Männer. Nur dieser Teil gilt als Wohnheim. Im Fall eines Feuers werden Frauen und Kinder den weitesten Weg ins Freie haben. In den oberen drei Etagen sollen Familien leben, insgesamt 22 Menschen. Deren Wohnungen „zählen nicht dazu“, sagt Wolf. Umbauten seien in der Kürze der Zeit nicht möglich. Für die Essensversorgung „werden wir gucken, dass man Kochgelegenheiten einrichtet“.

Während der Beratung im Bezirksbeirat galt die Aufregung der Nachbarn als Rätsel. Die meist jungen Hotelgäste gelten keineswegs als Vorbilder für Sauberkeit und Sittlichkeit. Mit den neuen Bewohnern werde die Situation sich verbessern. Zumal ihre Zahl sinkt: „Jetzt sind dort bis zu 112 Menschen untergebracht“, sagte Gerhard Bock, der beim Sozialamt für Flüchtlingsfragen zuständig ist. Mithin „haben wir sicher auch keine höhere Gefährdung“ – im Brandfall. Dass im Hotel die Grenze von 60 Betten um fast 100 Prozent überschritten wurde, teilt die Baurechtsamts-Chefin schriftlich mit, „ist uns nichts bekannt“.

Kommentar: An der Bruchgrenze

Brandschutz – Die Tauglichkeit des Hauses an der Paulinenbrücke als Flüchtlingswohnheim ist zweifellos fragwürdig.

Niemand will mit seinem Namen für die Kritik am Wohnheim stehen, der Furcht wegen, reflexartig in die rechte Ecke gestellt zu werden. Zu denjenigen, die an der Tauglichkeit des Hauses zweifeln, zählen aber auch Menschen, deren Name nicht den Hauch eines fremdenfeindlichen Verdachts zulässt.

Die Stadt ist in Not. Dem Kirchentag gleich, sucht sie im Gräbele von Doppelbetten nach Unterkünften für Flüchtlinge. Eben deswegen wird für wenige Monate Betrieb ein Haus gemietet, dessen Tauglichkeit zweifellos fragwürdig ist. Gewiss wird dem Buchstaben der Vorschrift nach der Brandschutz eingehalten. Aber der Buchstabe wird bis zur Bruchgrenze gedehnt. Geht alles gut, wird die Zwischenlösung zur aus jener Not geborenen Anekdote. Sollten tatsächlich in den oberen Etagen des Hauses Familien sterben, wird jemand die Verantwortung übernehmen müssen. Wer und warum? Weil sonst andernorts 15 Betten gefunden werden müssten?

In der Zeit des Hotelbetriebs ist alles gut gegangen. Ungeachtet dessen sind Zweifel berechtigt, ob die Brandschutz-Vorschriften eingehalten wurden. Zumindest stellt sich die Frage, wie ein interimsweise genehmigtes Hotel sechs Jahre lang betrieben werden kann. Hoffentlich wird sie im Rathaus auch gestellt.