Der Attentäter Anders Breivik verteidigt sich im Prozess mit einer wahnwitzigen Tirade gegen alles, was den Norwegern lieb ist.

Oslo - Das ist der Tag, den alle gefürchtet haben. Jene, die am 22. Juli vergangenen Jahres auf Utøya oder in Oslo einen ihrer Liebsten verloren haben, jene, die dem Gemetzel entkommen sind, und auch all jene, die den Schockzustand noch spüren können, in den ein ganzes Land gestürzt worden ist. Es ist der zweite Tag im zehnwöchigen Prozess gegen den Attentäter Anders Behring Breivik, der Tag, an dem er seine Verteidigung einleiten soll. Viel länger als die ihm zugestandenen 30 Minuten liest der 33-jährige Rechtsradikale aus den 13 Seiten vor, die er in den Zeugenstand mitbringt. Ja, er würde es wieder tun, sagt er. Nein, er erkenne keine Strafschuld. „Ich habe im Notrecht gehandelt, für mein Volk, meine Kultur, mein Land.“

 

Das ist ein Artikel, der eigentlich nicht geschrieben werden sollte. Das wichtigste Ziel seiner „Aktion“ sei die Aufmerksamkeit gewesen, die er erhalten werde, hat Breivik früher erklärt, und den Gerichtssaal als sein wichtigstes Propagandaforum genannt. Nun sitzen 800 Journalisten in den Pressesälen des Osloer Gerichts und registrieren jede Regung, jedes Wort des Massenmörders. Niemals würden seine wahnwitzigen Tiraden in anständigen Zeitungen auch nur den Weg in die Leserbriefspalten schaffen, so abseits aller Rationalität ist sein Weltbild, sind seine Konspirationstheorien. Jetzt, da er 77 Menschen getötet hat, berichten alle darüber.

Der Attentäter nutzt den Gerichtssaal als Tribüne

Eskil Pedersen, der Chef der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, die Breiviks Ziel auf Utøya war, gibt eine gute Antwort auf dieses Dilemma. „Wir lieben alles, was der Täter hasst. Wir kämpfen für Demokratie, Vielfalt, Toleranz. Er bewegt sich außerhalb des demokratischen Systems, wir antworten mit Meinungsfreiheit und Dialog.“ Fünf Tage lang wird Breivik die Tribüne des Gerichtssaals für seine Zwecke nutzen, fünf Tage, in denen er für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden soll. Am Ende dieser Tage wird klar sein, dass der Mann, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufspielte, nichts ist als ein Wahnwitziger, der sich mit Kriminellen wie der Zwickauer Terrorzelle „NSU“ auf einer geistigen Ebene fühlt. Die Entlarvung seines Fanatismus ist wichtig. Genau das passiert, wenn er zu reden beginnt, dann stellt er sich selbst und seine kranken Ideen bloß.

„Ich stehe hier als Repräsentant für die norwegische und europäische antikommunistische und antiislamische Widerstandsbewegung und für das Netzwerk der Tempelritter“, leitet Breivik mit seiner hohen, gepressten Stimme seinen Rechtfertigungsversuch ein. Später wird Staatsanwalt Svein Holden klarstellen, dass es die „Knight Templar“, von denen Breivik seinen Auftrag erhalten haben will, nur in dessen Fantasiewelt gibt. Der Attentäter wehrt sich dagegen, als „pathetischer, bösartiger Verlierer“ abgestempelt zu werden, als narzisstisch, antisozial, psychotisch und feige. „Die meisten da draußen verstehen, dass das alles nur Propaganda ist“, sagt der Mann, der zuletzt jahrelang in selbst auferlegter Isolation lebte, während er seine Attentate vorbereitete, und dennoch glaubt, für die vielen „Nationalisten und Kulturkonservativen“ zu sprechen, die er an seiner Seite wähnt.

Opfer und Hinterbliebene sind beim Prozess dabei

Das ist schwer auszuhalten für die rund 800 Überlebenden und Hinterbliebenen, die in Oslo oder einem von 17 anderen norwegischen Gerichten die Übertragung aus dem Gerichtssaal 250 hören. Immer wieder verlassen Betroffene um Luft ringend den Gerichtssaal oder seufzen auf, wenn Breivik die Organisation AUF mit der Hitlerjugend vergleicht und Utøya mit einem Indoktrinierungslager für Marxismus und Multikulturalismus. Als ihn die Richterin Wenche Arntzen um Mäßigung bittet, erwidert er, dass er seine Rhetorik aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen bereits stark gemäßigt habe.

Viele der Opfer tragen Anstecker mit der Aufschrift „No interviews, please“. Sie wollen in Ruhe gelassen werden. Andere drängt es geradezu, ihre Eindrücke zu teilen. „Ich wusste, dass es hart sein würde, aber es ist härter, als ich dachte“, sagt Ragna Sørlundsengen, die dem Schusshagel entkam. „Ich will dem Mörder ins Auge blicken“, sagt Sofie Lyshagen, die unverletzt davonkam, aber ihre beste Freundin Layla verlor. „Es wird guttun zu sehen, dass jetzt ich die Kontrolle habe. Er muss dasitzen, ich kann jederzeit aufstehen und den Saal verlassen.“

Die Richterin duzt den Angeklagten

Es geht zivilisiert zu vor Norwegens Gericht. Vor Beginn der Verhandlungen begrüßen die Ankläger den Täter mit Handschlag, Richter und Angeklagter sind per Du, das Sie ist im Norwegischen für den Umgang mit dem König reserviert. „Du kannst dich setzen“, sagt Arntzen fast mütterlich zu Breivik, als dieser den Zeugenstand betritt. „Du hast keine Pflicht, dich zu äußern, aber wenn du es tust, sei bitte ehrlich.“ Natürlich will sich Breivik äußern. Was er getan habe, sei ein „präventiver Angriff“ gegen die „Zerstörung unserer Kultur“ gewesen, nicht aus Bosheit, sondern aus „Güte“ habe er gehandelt. „Die kleine Barbarei ist manchmal nötig, um die größere Barbarei zu verhindern.“

Da fällt ihm als Rechtfertigung für die Ermordung von Kindern der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki ein, der 300 000 Unschuldige getötet, aber Millionen gerettet habe. „Ich und andere Militante wenden die gleiche Methode an.“ Sie hätten verstanden, dass demokratischer Widerstand nicht zum Ziel führe, der „wirkliche Terror ist der Multikulturalismus“. Die Hinrichtung von 70 Menschen könne einen „Bürgerkrieg verhindern, in dem Hunderttausende sterben“, fabuliert Breivik.

Die krude Gedankenwelt des Mörders

„Wer gibt dir das Recht, als Verteidiger des norwegischen Volks aufzutreten?“, bohrt Anklägerin Inga Beijer Engh und bekommt das Recht der Völker auf Selbstbestimmung zur Antwort. „Gabst du dir dein Mandat, oder hast du es bekommen“, will Engh wissen, nach langem Palaver räumt Breivik ein: „Das habe ich mir gegeben.“ „Auch das Recht zu töten?“ „Im bewaffneten Kampf gibt es immer Tote“, erwidert Breivik, als habe er auf Utøya gekämpft und nicht wehrlose Jugendliche ermordet.

Es habe in Norwegen und ganz Europa seit der Zwischenkriegszeit keine reelle Demokratie gegeben, lautet Breiviks verzerrte Geschichtsanalyse. Stattdessen herrsche eine „liberalistische und kulturmarxistische Diktatur“, die Schulen und Medien unterwandert und „Nationalisten und Kulturkonservative“ ausgegrenzt habe. Da wettert der Angeklagte gegen Sozialismus und Egalität, gegen Feminismus und die sexuelle Revolution. Seine Opfer auf Utøya seien nicht „unschuldige Kinder“ gewesen, sondern „politische Aktivsten“, das Feriencamp ein „ideologisches Indoktrinierungslager“.

Ein Laienrichter muss sein Amt bereits aufgeben

So wechselt Breivik zwischen Haltungen, wie man sie auf unzähligen rechten Webforen und selbst am rechten Rand des demokratischen politischen Spektrums findet. Deshalb ist es kein Wunder, dass sich unter den Betroffenen der Verbrechen starke Gefühle breit machen, auch „Hass“, wie Eskil Pedersen einräumt. Und es gibt viele in Norwegen, die meinen, dass die Gefängnisstrafe, die auf Breivik wartet, keine angemessene Sühne ist – zumal der Täter selbst sagt, dass ihn eine Haftstrafe nicht schrecken könne: „Ich bin in einem Gefängnis geboren und aufgewachsen, in dem ich dem Zerfall meiner Nation zusehen muss, dieses Gefängnis ist Norwegen.“

Der Wunsch nach Rache lebt neben der Hoffnung auf ein würdiges, demokratisches Verfahren weiter, doch dass er selbst auf das Gericht überschwappte, führte schon am Dienstag, dem zweiten Prozesstag, zu einem Eklat. Der als Laienrichter ausgewählte Thomas Indrebø hatte am Tag nach den Attentaten in einem Facebook-Kommentar die Todesstrafe als einzig gerechte Strafe für solche Verbrechen bezeichnet. Als dies von einer antirassistischen Website publik gemacht wurde, musste Indrebø sein Amt wegen Befangenheit aufgeben.

// Alles zum Prozess unter http://stzlinx.de/breivik