Am 23. Juni stimmen die Bürger Großbritanniens über den Verbleib oder den Ausstieg ihres Landes in der Europäischen Union ab. Hier die wichtigsten Argumente.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Fragen und Antworten zum Brexit von Peter Nonnenmacher

 
Was hat es denn auf sich mit diesem Brexit?
Beim Brexit - dem „britischen Exit“ - geht es darum, „ob das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen sollte“. So lautet die offizielle Frage auf den Stimmzetteln in Großbritannien bei der Volksabstimmung am 23.Juni dieses Jahres.
Und warum wird diese Frage den Briten jetzt vorgelegt?
Weil Premierminister David Cameron ein EU-Referendum erst seiner Partei und bei den Unterhauswahlen vor einem Jahr auch den Wählern versprochen hat. Cameron selbst sieht zwar keine Notwendigkeit für einen EU-Austritt, hat sich aber mit der Einwilligung in ein Referendum wachsendem Brexit-Druck in den Reihen seiner Konservativen Partei zu entziehen gesucht. Vor allem wollte der Tory-Premier der Unabhängigkeitspartei Ukip das Wasser abgraben, die Brexit von Anfang an auf ihre Fahnen geschrieben hat. Cameron glaubte, über ein klares Pro-EU-Votum den Streit um Europa in Grossbritannien ein für alle mal „aus der Welt schaffen“ zu können
Wie nah ist er diesem Ziel gekommen?
Schwer zu sagen. Die Umfragen sehen im Augenblick bestenfalls einen knappen Vorsprung des Pro-EU-Lagers voraus. Experten beziffern die realen Chancen noch immer mit 50 zu 50. Die Wettbüros haben mit ihren Quoten zwar von Anfang auf Verbleib gesetzt, aber die meisten ihrer Kunden wetten, dass ein Austritt kommt. Im Grunde weiss niemand, was am 23.Juni passiert.

Wer dringt denn auf Brexit?
Ukip natürlich, mit seinem Vorsitzenden Nigel Farage. Aber auch ein Großteil der Konservativen Partei und etwa die Hälfte der Tory-Abgeordneten im Unterhaus. Fünf Kabinettsminister, darunter Justizminister Michael Gove, und der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson. Einzelne Labour-Leute. Und die Demokratischen Unionisten in Nordirland.

Warum wollen diese Leute raus aus der EU?
Weil sie „wieder die Kontrolle“ über ihr Land verlangen. Weil sie glauben, dass sich Großbritannien auch außerhalb der Eurozone der immer schnelleren Integration der EU nicht entziehen kann. Weil sie finden, dass zum Beispiel Einwanderung aus Osteuropa nur per Brexit einzudämmen ist. Weil sie der Überzeugung sind, dass London zu viel Geld nach Brüssel abführt und unter zu vielen Vorschriften und Dekreten leidet - und dass ihr Land besser dran wäre als unabhängiger Staat, mit freien Handelsverträgen mit aller Welt.

Und was sagen die Befürworter eines Verbleibs?
Dass Großbritannien nur innerhalb der EU Einfluss, Geltung und Exportchancen habe. Dass ein Austritt eine wirtschaftliche Katastrophe für die Insel bedeuten und die City of London, den Finanzbezirk Britanniens, ins Wanken bringen könnte. Dass sich ihr Land gefährlich isolieren würde. Und dass die Migranten trotzdem kommen würden. Sonst würde ja auch den Briten auf dem Kontinent permanenter Aufenthalt verwehrt.

Wer vertritt diese Auffassung?
Premier Cameron und 16 seiner Kabinettsmitglieder, darunter der Schatzkanzler, der Außenminister und die Innenministerin. Der Großteil der Labour Party - wiewohl Parteichef Jeremy Corbyn persönlich keine Sympathie hegt für die EU. Die Liberaldemokraten. Die Grünen. Die schottischen und walisischen Nationalisten. Die meisten nordirischen Parteien. Viele Banken und Großunternehmen. Und die wichtigsten Gewerkschaften im Land
Wer sind die typischen Pro- und Anti-EU-Wähler?
Ein typischer Pro-EU-Wähler wäre wohl jung, relativ gut gebildet und vielleicht in London oder in Schottland ansässig. Angeblich wollen über 60 Prozent der Schotten und der Londoner den Verbleib in der EU. Ein typischer Brexit-Wähler wäre eher älter - eventuell Rentner - und in englischen Regionen wie East Anglia, den Midlands oder Yorkshire zuhause.

Ist denn jemals ein EU-Staat aus der EU ausgetreten
Grönland ist 1982 ausgetreten. Aber Grönland war kein Vollmitglied. Es ist ein Übersee-Territorium Dänemarks. Übrigens haben die Briten selbst 1975 schon einmal darüber abgestimmt, ob sie im europäischen Verbund - damals noch der EWG - verbleiben sollten. Das war zwei Jahre nach dem Beitrittsbeschluss Londons. Premierminister war damals der Labour-Politiker Harold Wilson, der ebenfalls Probleme mit seiner Partei in Sachen Europa hatte. Zwei Drittel der Briten sprachen sich 1975 für den Verbleib aus.
Was wären denn die unmittelbaren Folgen für die britische Politik bei einem Brexit?
Eine Regierungskrise wäre wohl unvermeidlich. Zwar hat David Cameron erklärt, er wolle auch im Brexit-Falle erst einmal Regierungschef bleiben, doch das nehmen nur wenige ernst. Viele Konservative sind sogar so empört von Camerons Manövern in dieser Referendums-Kampagne, dass sie ihn in jedem Fall gern loswerden möchten.
Wie würde sich das Vereinigte Königreich im Falle eines Brexit-Votums aus der EU lösen?
Die Regierung müsste den Rest der EU über die britische Austrittsabsicht informieren. Die Möglichkeit zum Austritt gibt ihnen Paragraf 50 des Lissabonner Vertrags - ein Paragraf, der übrigens erst seit 2009 existiert und der damals auf Betreiben Londons hin zustande kam. Danach gibt es einen Zeitraum von zwei Jahren, in dem Großbritannien noch EU-Mitglied ist, während Verhandlungen über die Modalitäten des Austritts stattfinden. Kommt keine Einigung zustande, scheiden die Briten nach Ablauf der Zweijahresfrist automatisch aus. Ansonsten kann die Frist auch verlängert werden. Oder Britannien kann, wenn es sich anders besinnt, seine Ankündigung jederzeit zurück nehmen und EU-Mitglied bleiben.

Und falls es wirklich zu einer Mehrheit für Brexit käme am 23.Juni: Wäre das für die Briten das letzte Wort in dieser Frage?
Nicht unbedingt. Das Referendum ist rechtlich nicht bindend. Erst einmal muss das Parlament der Kündigung des EU-Vertrags zustimmen. Später muss Westminster außerdem Ja sagen zu den ausgehandelten Austrittsbedingungen, zum eigentlichen Austrittsvertrag. Beide Male könnte eine Mehrheit von Pro-EU-Abgeordneten den Austritt theoretisch blockieren. Wahrscheinlich wäre das freilich nicht, nach einer Volksabstimmung.

Wären auch Neuwahlen denkbar?
Neuwahlen wären auch denkbar. Und dass sich eine Partei zum Beispiel bei Neuwahlen für einen britischen EU-Verbleib ein frisches Mandat holte. Oder dass während schon laufender Austrittsverhandlungen eine Regierung ihrem Land in erneuten EU-Verhandlungen noch etwas mehr Rechte verschaffen würde und es zu einem zweiten Referendum käme, bei dem die Bevölkerung dann dem Verbleib zustimmen würde.