Marlies Wolf hadert mit ihrem Job bei einer Security-Firma. Was im Kleingarten nebenan läuft, will die Ich-Erzählerin von „Inventurdifferenz“ gar nicht unbedingt wissen. Aber sie muss es herausfinden.

Stuttgart - Granteln, ätzen, stänkern, gifteln – so kennen wir unsere österreichischen Krimierzähler und -figuren, und das nicht erst seit Wolf Haas. Wer relativ neu auf die Freuden des austriakischen Krimigenörgels gestoßen ist, der sollte unbedingt die alten Krimis von Ernst Hinterberger (1931-2012) und Kottan-Erfinder Helmut Zenker (1949-2003) aus den Antiquariaten wühlen.

 

Britta Mühlbauer aber schreibt anders. Die 1961 geborene Wienerin verzichtet auf Humor, Karikatur, Übertreibungen und Gemosere. Das erste, was sie ihrem lesenswerten Roman „Inventurdifferenz“ voranstellt, ist denn auch ein Zitat der französischen Politikerin und Finanzexpertin Christine Lagarde: „Never imitate the boys“. (Hier geht’s zum Interview, in dem Lagarde diesen Rat gegeben hat.“)

Abgebrannte Brücken

Abwechselnd auf zwei Zeitebenen entfaltet sich die Handlung von „Inventurdifferenz“. Auf der ersten ist die Ich-Erzählerin Marlies Wolf in einem ungenannten zentralamerikanischen Land unterwegs. Sie sucht jemanden, mit einiger Dringlichkeit. Warum, wird uns vorerst nicht verraten. Wir begreifen aber schnell, dass hinter Marlies einige Brücken abgebrannt sein müssen. Auf der zweiten Zeitebene erfahren wir nach und nach, was zuvor in Wien vorgefallen ist.

Marlies Wolf ist Mitarbeiterin einer Security-Firma. Sie könnte hinlangen, aber das lässt man sie nicht. Ihr Antrag, dem Personenschutz zugeteilt zu werden, hängt bei ihrem Chef in der Warteschleife, auch dann noch, als sie anfängt, mit ihm zu schlafen. Marlies darf man sich mit der Diebstahlsquote in einem Baumarkt herumscheren.

In der sozialen Sackgasse

Ihre Fähigkeit, sich körperlich zu wehren, wird hier nicht zu einer ins Wunschtraumhafte spielenden Erweiterung einer Heldinnenfigur, wie etwa in den allgemein vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch gelobten Krimis von Merle Kröger. Der Security-Job wird ganz klar als soziale Sackgasse gezeichnet, die Wehrhaftigkeit von Marlies eher ein weiterer Fruststau als ein Quell des Selbstbewusstseins: ihre Probleme lassen sich mit Schlagen, Blocken, Aushebeln und Fixieren eben nicht lösen.

Relativ ruhig erzählt uns Marlies, wie die Dinge schieflaufen: wie sie eine alte Freundin wiedertrifft und eine faszinierende, intelligente Baumarktleiterin kennenlernt, die den Emanzipationskampf nicht aus der Luft der Talkshows, sondern am Boden des Alltags von Schützenloch zu Schützenloch führt. Verbissen ruhig könnte man diesen Ton nennen: Britta Mühlbauer bekommt ihn sehr gut hin. Marlies ist eine erfahrene Ausgegrenzte: sie trägt ein auffälliges Feuermal im Gesicht.

Klein, aber unfassbar

Die großen Verbrechen und Kriminalitätsströme spielen in Marlies’ Leben hinein. Eine Störung der streng reglementierten Beschaulichkeit in einer Kleingartenanlage hat mit organisiertem Menschenhandel aus Osteuropa zu tun.Aber Marlies und der Roman tauchen dann nicht ein in diesen großen Strom, und das darf man als Qualität werten. Marlies lässt sich nur auf das ein, womit sie vielleicht fertig werden könnte. Die Spannung resultiert daraus, wie auch das relativ Kleine unfassbar und unlösbar wird.

„Inventurdifferenz“ ist kein perfekter Roman. Mühlbauer vernarrt sich ein wenig in die Beobachtungsgabe oder vielleicht überhaupt in den Charakter von Marlies, überhaupt in die Spannung, die möglich ist, weil äußerlich nichts voranzugehen scheint, wir aber immer interessiert verfolgen, wie die Erzählerin innerlich damit fertig wird. „Inventurdifferenz“ ist ein wenig überdehnt, könnte im letzten Drittel ein paar Kürzungen vertragen.

Aber unter anderem der Kniff, dass uns auch in der Rückblende lange so unklar bleibt, wo das hinlaufen soll, wie auf der Gegenwartsebene, trägt diesen Krimi dann doch bis zum Schluss. Es gibt hier keine Attitüde, mal schnell mit einer kleinen Figur die große Welt zu erklären. Wie sagt Marlies? „Undercover-Einsätze sind wie Reality-Shows, du bekommst Einblicke, um die du nicht gebeten hast und die dich nicht gescheiter machen. Alle wünschen sich Liebe, Anerkennung, Geld und ein glückliches Leben. Im Gegensatz zur Reality-Show kannst du allerdings nicht einfach wegzappen.“

Britta Mühlbauer: „Inventurdifferenz“. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013. 378 Seiten, 19,90 Euro. Auch als E-Book, 15,99 Euro.