Die Politiker in Brüssel und Straßburg stellen Regeln auf, an die wir uns alle halten müssen. Ein Tag aus ganz persönlicher EU-Sicht.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Backnang/Brüssel - Träumt’ ich von Europa in der Nacht, bin ich in aller Herrgottsfrühe aufgewacht. Um 6.30 Uhr ist mein Schlaf zu Ende. Der Wecker hat geklingelt – wie jeden Tag, seit unsere Tochter in die Schule geht. Eigentlich könnten wir noch ein Stündchen liegen bleiben. Aber die Sommerzeit will es anders. Und diese Sommerzeit ist Mitte der siebziger Jahre von den damaligen Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft beschlossen worden. Seit 1980 werden die Uhren Ende März und dann wieder im Herbst umgestellt. Europa ist also schuld, schon am frühen Morgen. Wenn ich an so einem Morgen unsere Tochter fragen würde, ob sie bereit wäre, für die Sommerzeit die Europäische Union zu opfern, die Sechzehnjährige würde wohl sofort zustimmen. Aber sie spricht morgens eh nur so viel wie unbedingt nötig. Also frage ich lieber erst gar nicht.

 

Am 25. Mai sollen 400 Millionen Europäer in 28 Ländern wählen. Aber viele wollen gar nicht zu den Urnen kommen. 2009 lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei nur 43 Prozent. Mehr ist diesmal kaum zu erwarten. Viele Menschen denken, falls sie überhaupt je über die Union nachdenken: Die EU geht mich in meinem Alltag doch nichts an. Sie irren. Denn die Politik aus Brüssel und Straßburg beeinflusst unser Leben fast rund um die Uhr. Gleich nach dem Weckerklingeln warten schon die nächsten Schritte, bei denen Europa die Regie führt.

Sieben Uhr, Frühstück. Auf dem Tisch stehen Gläser mit der   Aufschrift „Konfitüre“ und „Fruchtaufstrich“. Das Wort „Marmelade“ ist seit ein paar Jahren tabu. Meiner Frau ist das bis dato noch gar nicht aufgefallen. Darauf angesprochen, ärgert sie sich aber mordsmäßig. Über die Bürokraten in Brüssel, die auf Wunsch der Briten beschlossen haben, dass Marmelade nur noch für die englische Marmelade stehen darf, für dieses bittere Zeug, das aus Zitrusfrüchten inklusive Schalen hergestellt wird. Eine Frechheit sei das, sagt sie. Die Konfitüreverordnung von 1982 hat schon lange vor diesem morgendlichen Protest zu einigem Ärger geführt. Deshalb gibt es Ausnahmen: Hierzulande dürfen örtliche Produzenten auf lokalen Märkten nach wie vor Marmelade verkaufen, selbst wenn der Brotaufstrich aus Erdbeeren hergestellt wurde, aus Stachelbeeren oder aus welchen heimischen Früchten auch immer. Die Europäische Union schützt nicht bloß die britische Marmelade. Auch andere regionale Spezialitäten genießen Protektion, etwa die schwäbische Maultasche und das Filderkraut.

Europaweit gültige Ökostandards

Ich esse morgens weder Marmelade, Maultaschen noch Kraut. Lieber Müsli, Biomüsli. Auf der Packung klebt das EU-weit vorgeschriebene sechseckige Siegel, das garantieren soll: Alle in Europa gültigen Ökostandards wurden bei der Herstellung dieses Produkts eingehalten. Die Europäische Union hat zudem festgelegt, dass auf verpackten Lebensmitteln sämtliche Inhaltsstoffe aufgeführt sein müssen.

Kurz nach sieben. Die Tochter fährt mit dem Rad zur Schule. Sie lernt im Gymnasium in Waiblingen drei Sprachen, Englisch, Spanisch, Latein – und ärgert sich regelmäßig, weil zu wenige Möglichkeiten für einen Schüleraustausch angeboten werden. Kürzlich hat sie aber das neue EU-Programm „Erasmus plus“ für Bildung, Jugend und Sport entdeckt. Seit Januar kann man sich bewerben. Eine zweistellige Milliardensumme wird für den Schüler-, Studenten- und Azubi-Austausch bereitgestellt. Na, das ist doch was. Da nehme ich gern eine Stunde weniger Schlaf und Konfitüre, die nicht mehr Marmelade heißen darf, in Kauf. Und die EU will auch Arbeitnehmern einen Austausch ermöglichen. Das sagt die Europabeauftragte des Rems-Murr-Kreises im Landratsamt in Waiblingen. Könnte also auch der Journalist Martin Tschepe einen Zuschuss für einen Aufenthalt in einer Redaktion im Ausland bekommen, zum Beispiel in England? „Ja klar“, sagt Irina Stotz.

Während der Nachwuchs büffelt und die Gattin arbeiten muss, habe ich an diesem Frühlingstag frei, fahre zum Schwimmen. Das neue Backnanger Hallenbad hat 18 Millionen Euro gekostet. Die größte Investition in der Geschichte der Kommune. Woran vermutlich kaum einer der Mitschwimmer an dem Vormittag denkt: Die Vergabe des Bauauftrags musste die Stadt europaweit ausschreiben. Der sogenannte EU-Schwellenwert beträgt seit diesem Januar 5,186 Millionen Euro. Bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen 207 000 Euro. Eine große Kommune müsste also selbst beim Einkauf von Toilettenpapier für ein Jahr im Voraus wohl europaweit nach Anbietern Ausschau halten.

Die sturen Briten

Nach dem Frühsport kaufe ich ein. Nach inzwischen zwölf Jahren Euro ertappe ich mich immer noch dabei, in die gute alte D-Mark umzurechnen. Ein Mobiltelefon für 300 Euro? Das sind ja 600 Mark! Bei Sätzen wie diesem kommt postwendend Protest von der Tochter. „Hallo, wir leben in Europa“, heißt es dann. Okay. Ich freue mich ja auch, dass ich vor einem Besuch bei den meisten meiner ausländischen Freunde kein Geld mehr zu wechseln brauche. Bei Petra in Spanien zum Beispiel oder bei Remy in Frankreich. Nur bei den sturen Briten ist alles wie früher. Schade eigentlich.

An diesem Vormittag kaufe ich kein Smartphone. Im Supermarktkorb landen Fleisch, Kartoffeln, Äpfel, Gemüse. Beim Anblick der Gurken kommt mir unweigerlich eine Europavorschrift von 1988 in den Sinn, die vermutlich mehr Wirbel ausgelöst hat als alle anderen. Die Gurkenkrümmungsverordnung. Für viele Kritiker ist diese Regelung mit der Nummer 1677/88 der beste Beweis für den Regulierungswahn durchgeknallter Eurokraten.

Dabei sollte die Verordnung gar nicht vorschreiben, wie krumm Gurken wachsen dürfen. Sie sollte rund zwei Dutzend Früchtesorten in drei Handelsklassen einteilen. Es ging etwa um die Farben von Erdbeeren, den Durchmesser von Äpfeln und eben die Krümmung von Gurken, die nur in der sogenannten Extraklasse „gut geformt und praktisch gerade“ sein mussten. Bei der Verordnung handelt es sich auch nicht um einen lang gehegten Wunsch der Bürokraten in Brüssel. Die Politiker haben nur eine Forderung der Lebensmitteleinzelhändler umgesetzt. Je krummer die Gurken, desto weniger passen nämlich in eine Kiste, und je weniger Gurken pro Kiste, desto größer der Transportaufwand, die Kosten, die Umweltbelastung. Wer genau hinguckt, entdeckt mitunter, dass auf den ersten Blick einigermaßen groteske Regelungen sinnvoll sein können. Das geht mir beim Einpacken meiner Gurke durch den Kopf. Die Regelung Nummer 1677/88 wurde übrigens vor fünf Jahren abgeschafft.

Schockbilder auf Zigarettenpackungen

Wieder daheim. An der Haustüre klappert es. Der Briefträger. Seit ein paar Jahren kommt der Mann nicht mehr unbedingt von der Post. EU-weit ist das Monopol des Staatsbetriebs gefallen. Konkurrenz belebt das Geschäft.

Ja, es stimmt: die Europäische Union regelt fast alles. Dass das Fleisch, das wir mittags essen, nicht zu viele Hormone enthalten darf. Dass das Auto, mit dem ich eben nach Backnang gefahren bin, bestimmte Umweltstandards erfüllen muss. Dass die Tabakwerbung stark eingeschränkt und das Rauchen vielerorts verboten ist. Dass bald Schockbilder auf den Packungen abgedruckt werden. Gut so. Die Gattin kommt nach Hause – und raucht erst mal eine.

Nach dem Essen ruft Mathew an, mein alter Schwimmkumpel aus Plymouth. Wir quatschen über den nächsten Besuch an der südenglischen Küste. Das Gespräch dauert länger als früher. Kein Problem. EU-weit sind die sogenannten Roaming-Gebühren stark reduziert worden, und zwar auf Druck der Kommission und des Parlaments. Das Telefonieren ist in Europa so preiswert wie nie zuvor. Die EU hat kürzlich beschlossen, dass Zusatzkosten für die Handynutzung im Ausland komplett verboten werden sollen. Auch für das mobile Surfen im Internet.

Frieden für den Kontinent

Spätestens seit dem Schengen-Abkommen müssen wir Europäer so gut wie keine bürokratischen Reisevorbereitungen mehr treffen, wenn wir spontan Freunde im Ausland besuchen wollen. Wir dürfen sogar arbeiten, wo wir wollen. Wir müssen uns fast keine Gedanken mehr über Grenzen machen, über Völkerverständigung und Frieden. Das alles ist selbstverständlich. So war es nicht immer: Mathews Eltern sind als Kinder noch vor deutschen Bombern geflohen. Und meine Mutter wurde als Kleinkind von britischen Bomben aus Berlin vertrieben. Auch das fällt mir zur anstehenden EU-Wahl ein.

Es lässt sich trefflich über Europa streiten, keine Frage. Ob Brüssel wirklich fast alles regeln muss, vom Aufstehen mit der Sommerzeit bis zum Schlafengehen mit dem EU-weit gültigen Verbot von Daunen, die lebendigen Gänsen ausgerupft worden sind. Dass der Führerschein die Größe einer Kreditkarte haben soll. Wie lange die Europäer wöchentlich arbeiten dürfen. Dass die Glühbirne in Rente geschickt wird. Dass Fahr- und Fluggäste bestimmte Rechte haben. Dass Spielzeug auf Krebs erregende Inhaltsstoffe untersucht wird. Dass behinderte Kinder eine Regelschule besuchen, Schwule wie Lesben heiraten und Frauen bei der Bundeswehr Waffen tragen dürfen. Dass die Wasserqualität der Badeseen, auch im Schwäbischen Wald, regelmäßig geprüft werden muss.

Im Gezänk über Kleinigkeiten und nationale Befindlichkeiten kommt mitunter das wirklich Wichtige unter die Räder. Mathews und mein Europa ist ein komplett anderes als das Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag. Unser Europa würde den Menschen im Jahr 1944 wie ein Wunder erscheinen. Deutschland, Frankreich und England ohne Krieg? Damals undenkbar. Heute können viele das Wunder Europa gar nicht mehr richtig sehen vor lauter Verordnungen, Richtlinien und Rettungsschirmen. Schade.

Wir haben die Wahl

Mein Europatag geht zu Ende, auf einem Ikea-Sofa und mit einem schweren französischen Rotwein, den Remy und seine deutsche Frau im südfranzösischen Durban gekeltert haben. Santé Europe. Dann wird geschlafen, unter dänischen Daunen, die garantiert nicht lebendem Federvieh ausgerupft worden sind.

Am Sonntag in einer Woche gehe ich auf jeden Fall wählen. Und wenn diesmal alle zur Wahl gingen, die ein sozialeres Europa wollen, ein Europa, das viel mehr rettet als Banken, dann wäre ein besseres Europa auch keine Utopie. Wem ich meine Stimme gebe? Das ist geheim. Aber den Europagegnern bestimmt nicht.