Der langjährige StZ-Redakteur Adrian Zielcke hat eine Liebeserklärung verfasst: "Unverkennbar Stuttgart" heißt das Buch. Ein Auszug.

Stuttgart - Gunther Ludwig berät gerne seine Kunden, wie sie beispielsweise ihr Kaninchen zubereiten sollen, das sie bei ihm gekauft haben. Ludwig kennt sich aus mit Wachteln, Gänsen, Enten, Hasen, Wild und Lamm. Er ist oft in Paris, er kauft dort nicht nur auf dem Großmarkt ein, er sieht sich auch um in den kleinen Markthallen der unterschiedlichen Stadtteile der französischen Hauptstadt. Dort beobachtet er, was die Kunden haben wollen, und dann bringt er es mit nach Stuttgart. Deshalb hat er gegenüber dem Stand "Kustermann" - ein Markenbegriff seit Jahrzehnten in der Markthalle - noch einen Stand mit französischen Spezialitäten.

 

Kustermann gehört ihm seit zehn Jahren, es ist seine Lebensaufgabe geworden. Was zeichnet einen guten Stand in der Markthalle aus? Gunther Ludwig: "Es muss ein Familienbetrieb sein, wir müssen ehrlich sein, solide, es muss super Ware geben und einen guten Preis." Wer in die Markthalle kommt, weiß, dass er mehr bezahlen muss als im Supermarkt. Aber er erhält auch ganz andere Ware. Das Fleisch kann bis zum Erzeuger zurückverfolgt werden, wie das Lamm vom Schäfer Stotz bei Münsingen auf der Schwäbischen Alb. Und die Beratung ist natürlich etwas ganz anderes. Ludwig stört es nicht, wenn ein Kunde fragt und fragt und nach zehn Minuten wissend mit einem Lächeln im Gesicht abzieht, ohne auch nur ein einziges Stück Fleisch erworben zu haben, aber zufrieden. Er wird wiederkommen.

Ein Ort der Kommunikation

Trotzdem hat die Markthalle ein Problem, es ist dasselbe wie bei vielen Handwerkern, in Gaststätten und Hotels. Viele Ältere geben auf, die Fluktuation ist relativ hoch. "Es ist ein Knochenjob. Von Montag bis Samstag musst du von sechs Uhr morgens bis abends um sieben präsent sein, Gemüsegärtner müssen mitten in der Nacht im Großmarkt frische Ware holen. Die Jungen wollen diese Arbeit nicht machen." Deshalb sieht Gunther Ludwig mit Sorge, dass sich immer mehr Firmen in der Markthalle festsetzen, während die Familienbetriebe verschwinden. "Das zehrt an der Vielfalt, und es ist etwas anderes, ob du vom Chef bedient wirst oder von einem Angestellten. Gazi, Böhm, Wohlfahrt - zweifellos alles gute Namen, aber das ist doch nicht der Sinn der Markthalle", sagt Ludwig besorgt. Markthalle - das ist nicht nur ein Ort, in dem man einkauft, es ist ein Ort der Kommunikation. "Du freust dich und leidest mit deinen Kunden."

Ja, Stuttgart hat seine Markthalle, es ist die schönste in Deutschland. Die kann niemand nachbauen oder nachahmen. In allen Städten dieser Welt breiten sich überall dieselben Markennamen aus, es gibt allein in Peking mehr als 100 McDonald's-Lokale, und auch die Coffeeshops sehen sich alle ähnlich. Die Markthalle aber gehört zu Stuttgart wie der Fernsehturm. Was dem einen die Stuttgarter Oper ist, das weltberühmte Ballett, das ist für mich seit Jahrzehnten die Markthalle. Alle Wohnungen in Stuttgart habe ich mir danach ausgesucht, ob die Markthalle in zehn bis zwanzig Minuten zu Fuß erreichbar ist. Durch die Markthalle zu schlendern, an den unterschiedlichen Ständen einzukaufen, ist im Lauf der Jahrzehnte zu einem eigenen Ritual geworden, ein Erlebnis, so wie andere ihren Ballett- Besuch nicht missen mögen. Rituale gehören zum Leben und Stuttgart hat einzigartige Rituale zu bieten.

Spanische Datteln und asiatisches Gemüse

Jeden Gast aus der ganzen Welt kann man mit einem Besuch der Markthalle schwer beeindrucken, denn sie ist draußen weit weniger bekannt als der Fernsehturm. Man kann schon morgens mit den Marktleuten sehr früh im Restaurant Markthalle drinnen oder draußen gemeinsam frühstücken und dabei ins Reden kommen. Maultaschen schmecken auch morgens. Freilich gehört zu solch einem Erlebnis ein Mindestmaß an Schwäbischkenntnissen, denn viele Marktbeschicker sprechen nicht das abgeschliffene Honoratiorenschwäbisch, wie es in Stuttgart üblich ist, sondern sie sprechen richtig Dialekt. Oder man führt seine Gäste in das Restaurant Empore in den ersten Stock, sucht einen Platz direkt an der Balustrade, und überblickt dort bei einem Glas Champagner das muntere internationale Treiben in der ganzen Halle mit ihren über 40 Ständen im Erdgeschoss und noch einmal 13 im zweiten Stock. Ein Bummel auf der ersten Etage durch alle Räume des Einrichtungsgeschäfts "Merz und Benzing" kann zu einem Tagesausflug werden. So schöne Gartenmöbel, so wertvolles Besteck, so herrliche Grillgeräte findet man selten an einem Ort versammelt.

In der Markthalle ist die ganze Welt zu Hause. Deshalb gibt es in der Tapasbar Desiree auch Datteln im Speckmantel, und selbstverständlich kann man in der Halle auch feinsten iranischen Kaviar erwerben. Man kann sich kaum sattsehen an dem frischen Obst, den vielen, vielen Äpfeln, im Herbst den Pilzen, den unterschiedlichen Kartoffeln, an allen einheimischen und asiatischen Gemüsen und den wunderbaren Tomaten, die ein köstliches Aroma verströmen und auch so schmecken. Jeder Besucher findet mit der Zeit "seinen" Griechen, Italiener oder Türken oder Spanier, wo ihm die eingelegten Paprika, der Schafskäse, das Olivenöl am besten schmecken.

Fast wäre die Markthalle sogar abgerissen worden

In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verließen viele Frauen die Küche, sie emanzipierten sich, sie bestanden bei einer Heirat auf dem Doppelnamen, und sie stellten ihre Emanzipation dadurch unter Beweis, dass sie demonstrativ bekundeten, sie könnten nicht kochen und hätten auch keine Lust, diese Kunst zu erlernen. Es war manchmal etwas schwierig. Was tun?

Meine damalige Freundin Christa hatte Ende Oktober Geburtstag, also bin ich eines Tages zu Kustermann, habe eine frische Gans gekauft - anders als heute wurden damals kaum mehr Gänse gegessen -, beim Schwyzer-Stand Majoran und Rotkohl geholt, an anderen Ständen Äpfel und Kartoffeln. Zu Hause habe ich in alter Familientradition alleine das mächtige Tier gebraten. Es war eine Sensation! Volltreffer! Niemand sonst verkaufte damals frische Gänse außer Kustermann - und natürlich gab es an seinem Stand nur frisches Fleisch. Eine andere Stuttgarter Feinschmecker-Institution, Feinkost Böhm, hat ja - den Piëchs sei Dank - wieder mächtig aufgeholt. Aber die Markthalle war, ist und bleibt einzigartig.

Niemand wird heute mehr glauben, dass anfangs der siebziger Jahre namhafte Gutachter vorgeschlagen haben, die Markthalle abzureißen und stattdessen ein Kaufhaus mit vielen kleinen Läden zu errichten. Gott sei Dank brach ein Sturm der Entrüstung in der Stadt los. Und niemand traute sich mehr, solche absurden Vorschläge auf den Tisch zu legen. Der Jugendstilbau wurde von dem damals jungen Architekten Martin Elsaesser in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erbaut. Es haben sich wenige Menschen so um Stuttgart verdient gemacht wie Martin Elsaesser.

Hintergrund: Ein sehr persönliches Buch über Stuttgart

Autoren Adrian Zielcke (Jahrgang 1945) hat 40 Jahre lang für die Stuttgarter Zeitung gearbeitet, zuletzt als Leiter des Ressorts Außenpolitik. Vor einem Jahr ist er in den Ruhestand gegangen. Wilhelm Mierendorf (Jahrgang 1955) war als Fotograf zwölf Jahre lang bei der StZ angestellt und ist seither als freier Bildjournalist tätig.

Buch "Unverkennbar Stuttgart - eine Liebeserklärung" ist vom Mittwoch, 25. Mai, an, im Buchhandel erhältlich. Der Band beschreibt in 27 Kapiteln die schönsten Orte und Viertel in Stuttgart, von der "Kochenbas" bis zum Waldheim in Heslach. Das Buch ist im Silberburg Verlag erschienen, hat 120 Seiten und kostet 19,90 Euro.

Präsentation Adrian Zielcke und Wilhelm Mierendorf stellen ihr neues Buch am kommenden Dienstag, 24. Mai, um 20.15 Uhr in der

Buchhandlung Wittwer

in der Königstraße vor. Der Autor wird mehrere Kapitel lesen, im Hintergrund sind die Bilder des Fotografen zu sehen. Der Eintritt zu der Präsentation kostet 8 Euro.