Ulrich Raulff reist zurück in die wilden Jahre des Lesens. In seinem berauschenden Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ feiert er eine Zeit, in der die Theorie eine Droge war und die Leidenschaft für Bücher eine erotische Erfahrung.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eigentlich könnte man sich von einem Buch wie diesem bedroht fühlen. Wenn Gelehrte in den Ich-Modus wechseln, um von ihren Studienjahren zu erzählen, muss das nicht unbedingt Vergnügen verheißen. Welche Abenteuer sind schon von Menschen zu erwarten, die ihre Zeit größtenteils in Lesesälen hinter Buchgebirgen verdämmert haben? So unbedarft allerdings fragt nur, wer nie von der Droge Theorie gekostet hat. Ulrich Raulff, der Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat davon eine ganze Menge konsumiert, und zwar zu einer Zeit, in der der Stoff von ausgesuchter Qualität war. Es hat ihm nicht geschadet, ganz im Gegenteil, der Theorie-Junky Raulff wurde nicht nur zu einem der lebendigsten Intellektuellen des Landes, sondern nun auch zum Autor einer berauschenden Bildungsgeschichte.

 

„Wiedersehen mit den Siebzigern“ hat er seine Erinnerungen an eine Zeit überschrieben, in der im hortus conclusus der Gelehrsamkeit eine Fülle aufregender Samen aufzugehen begannen, die vor allem von Frankreich herübergeweht wurden und sich mit Namen wie Roland Barthes, Michel Foucault oder Gilles Deleuze verbinden. Sie fielen auf einen fruchtbaren Boden, den ein heiliger Ernst gegenüber der Predigt der Begriffe bereitet hatte, und trafen auf ein Klima, das günstig war, blühende Theorie als die wahre Praxis zu erweisen. Und genau darin liegt der Reiz dieses Buches: dass es keine abstrakten Positionen rekapituliert, sondern deren Abglanz im Leben jener, die sich ihnen einmal kühn ausgesetzt haben.

Vertrocknende Kantianer, faulende Hegelianer

Raulff liefert das Gedächtnisprotokoll einer Expedition durch die „wilden Jahre des Lesens“, wie der Untertitel lautet. Sie beginnt, wie es sich für gute Abenteuergeschichten gehört, mit dem suggestiven Klang einer Buschtrommel während einer Bootsfahrt auf der Lahn in Marburg, führt nach Paris und London, und endet schließlich mit dem aufkommenden Sturm der digitalen Gegenwart.

Die Reise führt durch umkämpftes Terrain. „Eigentlich beschoss hier jeder jeden“, heißt es über die Grabenkriege im Philosophischen Seminar in Marburg, wo der angehende Geisteswissenschaftler sein Studium begann. Man begegnet alten Meistern die im Schlafrock dozierten, von denen man nicht sagen konnte, ob sie noch lebten. „Bei alten Kantianern weiß man das nicht so genau, weil sie langsam vertrocknen, während Hegelianer in Fäulnis übergehen.“ Auf der anderen Seite die jungen Dandys und Theoriegötter. Der spätere Stuttgarter Ordinarius für Germanistik, Heinz Schlaffer, und seine Frau Hannelore erscheinen Raulff im Rückblick als das Hohe Paar der Siebzigerjahre: „Sie gehörten zu den Sehenswürdigkeiten von Marburg, und wir hätten uns nicht gewundert, wenn Japaner in Bussen gekommen wären, um nach Heidelberg und der Lorelei die Schlaffers zu besichtigen.“

Der tödliche Cocktail aus Erotik und Intellektualität

Die Vergesellschaftung intellektueller und sensueller Lust ist ein durchgehendes Motiv dieser fein gezeichneten Vignetten. „Trenchcoats und Hornbrillen, Erotik und Intellektualität, der tödliche Cocktail“. Zwischen Liebesangelegenheiten und Leseakten besteht ein Einvernehmen, das im ozeanischen Vergnügen des Eintauchens in den Text kulminiert. Die Pariser Bibliotheken erscheinen dem deutschen Gaststudenten wie Orte verbotener Lüste, Separees oder Spielhöllen. Die Metropole selbst als Hauptstadt des Begehrens.

In Paris fand Raulff, der sich zuvor noch an Büchertischen darum bemüht hatte, die Werke des großen nordkoreanischen Führers Kim Il Sung an den Mann zu bringen, eine Alternative zu dem neomarxistischen Mainstream, der in Deutschland dominierte. Statt mit dogmatischen Inhalten konfrontierten ihn die Pariser Denker mit dem Spiel der Signifikanten, dem Strömen der Diskurse und den Codes der Bildwelten des Alltags: Konsum, Werbung, Design. Der Strukturalismus wies den Weg zu einem freien Denken. Und auf welche erfrischende Weise sich damit Geschichte erzählen lässt, beweist Raulffs Buch an sich selbst. Denn eingefaltet in den Bildungsweg des Autors entwickelt es im flüchtigen Vorbeigehen eine Geschichte des Interieurs, der Musik, der Medien und der Bilder.

Die letzte Print-Tankstelle vor der Datenautobahn

Die Empfänglichkeit für die Macht der Bilder verknüpft sich mit dem Namen des Hamburger Kulturwissenschaftlers Aby Warburg. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hatte er den unheimlichen und erregenden Bedeutungsfonds der durch die Kunstgeschichte migrierenden Bildprägungen zu entziffern begonnen und damit die Wissenschaft der Ikonologie begründet. Warburgs Nymphen und Mänaden begegnen Raulff noch beim Durchblättern von „Playboy“-Ausgaben in Londoner Friseur-Salons. Und wenn man will, kann man dieses „Wiedersehen mit den Siebzigern“ auch als einen imaginären Bildatlas lesen, der die Pathosformeln der Gelehrsamkeit dieser Jahre kartografiert: Foucaults gestisches Repertoire, „Hände wie Zauberstäbe“, um die Magie der Rede zu verstärken, Roland Barthes melancholisch-heiterer Humor, Jakob Taubes’ unbeweglicher und doch gefährlich-elektrisierender Esprit. Man muss kein Geisteswissenschaftler sein, nicht in Paris, London oder Berlin studiert haben, um an diesen Beschreibungen Gefallen zu finden. Raulffs elegante Prosa ist so fesselnd wie ein Campus-Roman, so lustig wie eine Gelehrten-Satire.

Und doch grundiert das Ganze ein leise-elegischer Ton. Die Siebziger waren kein Goldenes Zeitalter, ein Weg politischer Praxis führte in den Deutschen Herbst. Auch dies eine Folge blühender Theorie. Ob, was den Aposteln der theoretischen Hochzeit folgt, tatsächlich vor allem Epigonen und Renegaten waren, bleibe dahingestellt. Zum dramaturgischen Repertoire autobiografischen Erinnerns gehört auch die Verklärung. Unstrittig ist, dass der digitale Wandel jene Biotope, in denen das wilde Lesen einmal gedieh, verändert. Raulff erzählt „Geschichten von der letzten Print-Tankstelle vor der Datenautobahn“. Sind die Siebzigerjahre also ein Fall fürs Archiv? Dort, das ist eine der Lehren dieses schönen Buches, lauern die aufregendsten Entdeckungen – und sie führen nicht aus dem Leben hinaus, ganz im Gegenteil.