Von der Spaßguerilla zum politischen Protest: Drei Spiegel-Online-Autoren erzählen, wer hinter Anonymous steckt – und warum wir uns mit der Bewegung befassen müssen.

Stuttgart - Ein Buch über ein so genanntes Internetphänomen zu schreiben, könnte man als gewagt empfinden. Immerhin gilt das Netz als schnellstes Medium, in dem das Neueste der Feind des Neuen ist. Dass noch zur Jahrhundertwende ernsthaft Druckerzeugnisse mit den angeblich 1000 besten Internetadressen verkauft wurden, ist ja heutzutage unvorstellbar. Mit dieser Art der Internetkonservierung hat das Sachbuch „Wer Are Anonymous“ aber zum Glück rein gar nichts zu tun. Die Autoren, Ole Reissmann, Christian Stöcker und Konrad Lischka, sind als Netzwelt-Redakteure bei Spiegel Online so etwas wie Korrespondenten der digitalen Welt. Sie erklären ihren Lesern täglich, was in diesem Internet so vor sich geht und warum. Dass sie nun ein Buch über Anonymous geschrieben haben, ist, wenn man so will, schon eine Botschaft an sich. Sie lautet: das geht nicht so schnell wieder weg. Also müssen wir uns damit beschäftigen.

 

Dankenswerterweise erzählen die Autoren erst einmal ausführlich, woher Anonymous überhaupt gekommen ist. Die Wurzeln liegen in einem 2003 gegründeten Internetforum namens 4Chan. Das so genannte Board ist grafisch sehr viel einfacher gehalten als zum Beispiel Facebook, aber es gibt noch einen viel wichtigeren Unterschied: man ist dort anonym. Das mag auch der Grund dafür sein, dass die Inhalte, die in einem bestimmten Unterforum verhandelt werden, von den Autoren als einigermaßen furchtbar beschrieben werden. Selbst der Gründer von 4Chan sieht das übrigens nicht anders. Pornobildchen, Schmähkritik, geschmacklose Witze. Alles, was auf 4Chan passiert soll für „Lulz“ sein, dem Spaß dienen. „Lulz“ leitet sich von „laughing out loud“ ab, also laut lachen.

Die digitale Gag-Fabrik

Diesen Bereich von 4Chan schildern die Autoren als eine Art digitale Gag-Fabrik ohne Tabus, deren Produkte manchmal populär werden und irgendwann dorthin gelangen, wo sich die Mehrheit im Internet aufhält: auf Facebook und Nachrichtenseiten, in Blogs und Mainstream-Foren. Und manchmal bekommt auch jene Masse etwas davon mit, für die das Internet vor allem aus Ebay, Amazon und Reiseportalen besteht. Nämlich dann, wenn es ein so genanntes Meme (das kann zum Beispiel ein Bild sein, ein Witz oder eine Behauptung) sich so stark verbreitet hat, dass auch das Fernsehen darüber berichtet. Kurzum: das alles wirkt zunächst ziemlich unreif, aber effektiv. „So wie ein Kleinkind, das seine Rassel immer wieder herunterwirft, um sich daran zu erfreuen, dass es jedes Mal wieder klappert, spielen die 4Chan-Nutzer mit den Mechanismen des Netzes“, heißt es an einer Stelle des Buches.

Dass in diesem Mechanismus auch eine Gefahr steckt, wurde spätestens nach dem Amoklauf von Winnenden im März 2009 auch in Deutschland klar. Auf Krautchan, einem deutschsprachigen Klon von 4Chan, wurde das Meme „gepflegt grillen“ geboren – und schaffte es in die Nachrichten, weil es manipulativ mit der Tat von Winnenden in Verbindung gebracht wurde. Der damalige Innenminister Heribert Rech (CDU) erklärte, der Täter habe die Tat im Internet angekündigt. Später musste er das zurücknehmen

Keine Struktur, kein gemeinsames Ziel

Wie aus dieser teils albernen, teils geschmacklosen Subkultur so etwas wie eine weltweite Bewegung, die sich Anonymous nennt, werden konnte, ist die große Frage. Es darzustellen und Erklärungen zu finden, die Leistung des Buches. Wie auch die Stuttgarter Zeitung im Januar, räumt es vor allem mit dem Irrglauben auf, dass es sich bei Anonymous um eine homogene Hackergruppe handelt. Tatsächlich gibt es keine Struktur, kein gemeinsames Ziel. Hinter Anonymous stecken Teenager und Aktivisten, meistens Männer, manchmal Frauen. Sie sind weltweit vernetzt und doch chaotisch, für eine Attacke organisieren sie sich spontan, um anschließend wieder in Einzelteile zu zerfallen.

Mit kritischer Distanz aber sachkundig zeigt das Buch, wie sich die „Lulz“-Fraktion und der ernsthafte Flügel gestritten haben und es immer noch tun. Von ersten Aktionen gegen Scientology über die Rolle im Arabischen Frühling bis zur Occupy-Bewegung. Spannende Einblicke in eine neue Protest- und Aktivismus-Kultur, die gerade dabei ist, politische Aufmerksamkeitsökonomie dauerhaft zu verändern. Längst nicht mehr nur im Internet.

„We Are Anonymous“ ist im Goldmann-Verlag erschienen und kostet 8,99 Euro.