Inmitten digitaler Zeitrechnung behauptet sich Meike Lehmann mit ihrem Buchbindereibetrieb, weil die bibliophilen Menschen nicht aussterben und Bücher einfach besser riechen als E-Book-Reader.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Der Geruch von Papier und seifigem Leim liegt in der Luft. Schmale Korridore führen zwischen bepackten Regalen und Maschinen-Sauriern hindurch, dazwischen große Arbeitsplatten. In der Buchbinderei von Meike Lehmann scheint die Zeit stehen geblieben. Die Pendeluhr im Metallkasten an der Wand steht schon seit Jahren still. „Der Mann, der sonst immer zur Wartung kam, ist gestorben“, sagt die 42-Jährige. Die Buchbindermeisterin hat noch lebhaft in Erinnerung, wie die Uhr zu den Vesper- und Mittagspausen rasselte. Lehmann hat hier von 1994 bis 1997 bei Martin Kugler ihre Ausbildung zur Handbuchbinderin absolviert. Als ihr Meister sich 2005 in den Ruhestand verabschiedete, hat sie dessen Traditionsbetrieb gekauft.

 

Seither gibt es keine festen Vesper- oder sonstigen Pausen mehr. „Ich finde die Vorstellung seltsam, beim Klingelton plötzlich alles fallen zu lassen, um Pause zu machen“, sagt Katrin Schubart. Sie bringe eine Sache lieber erst zu Ende und gehe sich dann einen Kaffee holen. Die Buchbinderin ist eine von drei Mitarbeiterinnen in Lehmanns kleinem Betrieb in der Seidenstraße. Demnächst kommt noch eine Auszubildende hinzu. Ist die Buchbinderei eine Frauendomäne? „Ja“, sagt die Chefin. Warum? „Da ist Fingerfertigkeit gefragt und man verdient nicht toll.“ Dieses Handwerk verlangt außerdem Herzblut und Stehvermögen – die wenigsten Arbeiten lassen sich im Sitzen erledigen.

Aus dem Märchenbuch dringt noch immer Omas Stimme

Mit dem Betrieb hat Meike Lehmann auch einige der alten Kunden Kuglers übernommen. Seit gut 30 Jahren kommt regelmäßig ein Herr vorbei, der sich seine Tageszeitungen binden lässt. Die schweren Folianten aus Jahrzehnten archiviert der Mann alle in seiner Wohnung. Lehmann und ihre Mitarbeiterinnen erfüllen die ausgefallensten Wünsche: Sie binden ausgedruckte Liebesmails, bauen mal eine stilgerechte Präsentationsbox für das Meisterstück einer Goldschmiedin, binden Doktorarbeiten, bündeln Fachmagazine oder verarzten geliebte Kinderbücher.

Eine Dame hat gerade eine Ausgabe von Grimms Märchen vorbeigebracht – kein bibliophiles Exemplar, sondern Massenware aus den 1960er Jahren. Das Erinnerungsstück mit verschlissenem Leineneinband, gebrochenem Rücken und mit Tesafilm bandagierten Seiten soll aufgemöbelt werden. Die Kundin will es ihrer Tochter zum 18. Geburtstag schenken: „Wenn sie darin liest, hört die Tochter noch die Stimmen ihrer Großeltern, die ihr früher daraus vorgelesen haben“, weiß Lehmann zu berichten. Auch ein lebensrettendes Buch lag schon auf ihrem Arbeitstisch. Ein alter Herr hatte es vorbeigebracht und diese Geschichte erzählt: Mitten in einem Feuergefecht während des Zweiten Weltkriegs sei ihm das Buch von irgendwoher vor die Füße gefallen. Als er sich danach gebückt habe, sei eine Kugel über ihn hinweggepfiffen, die ihn sonst todsicher getroffen hätte.

In den beiden Werkstatträumen – einer im Erdgeschoss und einer im Souterrain – herrscht stilles, konzentriertes Arbeiten, wenn nicht gerade die Fadenmaschine ihre Nadeln in die Seiten rammt oder der Polygraph Heftklammern tackert. Viele der Maschinen stammen noch aus dem Vorgängerbetrieb. Die neueste ist eine Art elektrische Schreibmaschine mit Typenrad, mit der Computertexte aufgeprägt werden können. Lehmann verfügt aber auch noch über vollständige Bleisätze, mit denen sich das ganze von Hand erledigen lässt.

Leser lieben echte Bücher mehr als E-Books

Sie ist merklich stolz auf die nunmehr 110-jährige Geschichte ihres Unternehmens, wenngleich es nicht ihr leiblicher Ururgroßvater war, der 1905 die Firma „Buchbinderei-Schreibwaren Kugler“ in der Rosenbergstraße 28 eröffnete. 1910 zog Gottlieb Kugler an die heutige Adresse. Sein Sohn Richard ging da bereits bei ihm in die Lehre. Bei einem Bombenangriff 1944 wurde das Haus komplett zerstört und die Kuglers eröffnen in der Johannesstraße neu. Mitte der 1950er Jahre begann Martin Kugler seine Lehre beim Vater, und nachdem das Haus in der Seidenstraße wieder aufgebaut war, zog die Firma dort 1957 ein und blieb bis heute.

Meike Lehmann ist überzeugt, dass ihr Handwerk auch in digitalen Zeiten Bestand hat. Die Menschen werden immer bibliophile Sonderwünsche hegen, die sie und ihre Kolleginnen wahr zu machen verstehen. Außerdem hält sie den ganzen E-Book-Hype für überbewertet: „Das ist etwas für Vielleser, die im Urlaub täglich einen Roman verschlingen und nicht alle Bücher mitschleppen wollen. Ich selber brauche Papier, ich will ein Buch in der Hand halten, es riechen. Ein Tablet-Computer ist nur glatt und kalt.“ Die Statistik zeigt, dass viele Leser so denken und fühlen wie die Stuttgarter Buchbinderin: Der Anteil von E-Books an den Gesamtumsätzen im Buchmarkt ist nach wie vor gering. 2014 wurden rund 3,9 Millionen E-Book-Käufer in Deutschland gezählt. Noch bevorzugen die Verbraucher einer Studie des Börsenverein des deutschen Buchhandels zufolge beim Buchkauf das gedruckte Exemplar.