Frank Witzel liefert ein umfassend ausschweifendes Psychogramm der alten Bundesrepublik. Sein buch ist mächtig – und wirkmächtig.

Frankfurt - Frank Witzel gehörte 2004 und 2008 neben Thomas Meinecke und Klaus Walter zum Autorentrio, alle Jahrgang 1955, das sich an einen Tisch setzte und redete: über Popmusik („Plattenspieler“) und über die BRD („Die Bundesrepublik Deutschland“), als eine Art Performance, spontan, ohne Punkt und Komma, von Hölzchen zu Stöckchen und vice versa. Im Vorwort zum Band „Die Bundesrepublik Deutschland“ schrieb Walter seinerzeit, dass das Reden über das alte Westdeutschland offenbar ohne die RAF und ohne alte Nazis nicht zu haben sei. Witzel dachte lieber über den Vorgang des Erinnerns nach: „Es heißt, man soll aus der Vergangenheit lernen. Nur was ist das für eine Vergangenheit, aus der ich lernen soll? Es ist ein Konstrukt aus der Gegenwart, eine Interpretation lückenhafter Fundstücke.“

 

Führt von hier aus eine Spur zum voluminösen Roman von Witzel mit seinem schönen Titel? Einem RAF-Roman mit einem 13-jährigen Protagonisten, der zwar nicht so recht versteht, was in der Welt der Erwachsenen vor sich geht, aber Impulse der RAF auf Autoquartett-Niveau nachspielt? Fantasie als Fluch und Segen! In der nur scheinbar naiven Manier eines Andreas Mand („Groovers Erfindung“) schreibt Witzel Sätze wie „Ich ziehe das DIN-A4-Heft raus, das ich hinter dem Schrank versteckt habe und in das ich alles schreibe, was mit der Roten Armee Fraktion zu tun hat. Da steht zum Beispiel drin, wer alles bei uns Mitglied ist und wann wir uns treffen und wer welche Singles mitgebracht hat und auch unser Wahrzeichen, obwohl das noch nicht ganz fertig ist.“

Verschwende deine Jugend nicht

Die Jugend-Gang flieht vor der Polizei in einem NSU Prinz, weil die Band Cream einen Song mit dem Titel „NSU“ im Repertoire hat. So wie BMW ja auch „Baader Meinhof Wagen“ hieß. Doch Witzel legt schnell nach in Sachen Komplexität, denn der Protagonist wächst mit Katholizismus und Beichtzwang auf. Witzel schichtet wechselnde Erzählperspektiven: der Teenager ist verwirrt, die Mutter erleidet einen Schlaganfall und wird ersetzt durch eine „Frau von der Caritas“, die in die Familie eindringt und vielleicht gar eine Ost-Spionin ist. Der Teenager wird vielleicht sitzen bleiben. Der Teenager, der einmal „Timo“ heißt, schwärmt für die Kinks und „Waterloo Sunset“.

Alltagsgeschichte und Popkultur kontaminieren diese Prosa: es gibt lange und sehr originelle Exegesen des Beatles-Albums „Rubber Soul“ ebenso zu lesen wie sich der Tod von Brian Jones wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Und Witzel hebt auch die Chronologie auf: Der Sommer 1969 hat eine Vorgeschichte, die auf wenigen Seiten aus kindlicher Perspektive rekapituliert wird, aber der Sommer 1969 hat auch ein Nachleben. Aus den Beichten wird ein seltsames Verhör, in dem es darum geht, dass dem manisch-depressiven Teenager ein paar Jahre später vorgehalten wird, „tatsächlich“ die RAF erfunden, also gegründet zu haben: „Stimmt es, dass Sie Messdiener an der Herz-Jesu-Kirche in Biebrich waren, und zwar, um es genau zu sagen, an jener Herz-Jesu-Kirche, an der in den Jahren 1969 bis 1973 die Terroristin Birgit Hogefeld Orgelunterricht erhielt?“ Kann sein, aber was eigentlich zählt: der Protagonist war seinerzeit wohl zu feige für mehr als Sympathie für die RAF, was aber auch weniger mit der Politik zu tun hatte, als vielmehr damit, dass der Messdiener in den Bildern des toten Holger Meins und Holbeins „Christus im Grabe“ eine ikonografische Ähnlichkeit erkannte.

Ein Buch mit allen Zutaten

Witzel spielt mit den unterschiedlichsten Textsorten und Fiktionalisierungsgraden, nutzt Fußnoten und liefert dankenswerterweise ein Register, das als Seiteneinstieg in diesen Prosaberg zum Stöbern einlädt. Er liefert ein „Schneider Jugendbuch in 18 Kapiteln“, schreibt einen Brief an Che Guevara, entwirft mit leichter Hand alternative Pubertäten, zum Beispiel diejenige eines Christoph Gasthaler, die einem seltsam bekannt erscheint, bietet Exkurse zum Naturschönen oder zur schwierigen Entnazifizierung der deutschen Sprache, analysiert die ideologischen Implikationen einer Geschichtsarbeit vom 9. Mai 1969, erinnert an längst vergessene Mordgeschichten, aber auch an Lolek und Bolek, Fix und Foxi, Winnetou und Klekih-Petra.

Und wo es um eine möglichst dichte Beschreibung der Psycho-Pathologie des alten Westdeutschland geht, darf Kommissar Keller nicht fehlen, der in bewährter Manier das von Witzel gewählte und mit Nachdruck exekutierte Erzählverfahren auf den Punkt bringt: „Für uns ist alles wichtig, was wir uns nicht erklären können.“ Man kann die Stimme Erik Odes förmlich hören, wenn man das liest. Anders gesagt: „Wir wollen etwas erklären, und deshalb konzentrieren wir uns auf das, was wir uns nicht erklären können, eben um es zu erklären. Tatsächlich aber stellt sich heraus, wenn man ganz genau hinschaut, dass die Bedeutung gerade darin liegt, es nicht erklären, nicht auflösen, vor allem nicht kontrollieren zu können.“

Auch davon erzählt diese meisterhafte und unberechenbare Prosa, die nicht zu jedem Zeitpunkt, aber immer wieder zu fesseln versteht.