Sternstunde engagierter Literatur: Wolfgang Schorlau stellt im Stuttgarter Hospitalhof vor 850 Zuschauern seinen neuen Dengler-Krimi vor.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - So ein Gedrängel kennt man sonst eher von Rockkonzerten, seltener von Lesungen. Und ein wenig fängt das Ganze ja auch an wie ein Rockkonzert, wenn sich der Gitarrist Werner Dannemann in seine eigenwillige Version des Dylan-Songs „All Along the Watchtower“ hineinsteigert, worin es ebenfalls um den Überblick geht, den sich die Mächtigen verschaffen. Wie in Wolfgang Schorlaus neuem Dengler-Krimi. 850 Zuhörer füllen den Hospitalhof, wohin das Literaturhaus Stuttgart die Buch-Premiere von der „Schützenden Hand“ ausgelagert hat. In seinem achten Einsatz packt der Privatdetektiv den vielleicht brisantesten Fall der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte an: jene Mordserie an Migranten, deren Dimension erst mit dem Tod der beiden Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ offenbar wurde. Seitdem sind immer wieder neue haarsträubende Verstrickungen, Vertuschungen und Ungereimtheiten ans Licht gekommen. In welchem Verhältnis dazu der Watchtower der Staatsmacht steht, wirft Fragen auf, die ein erster Untersuchungsausschuss nicht klären konnte, und die seit zwei Jahren im Schweigen der mutmaßlichen Komplizin Beate Zschäpe im Münchner NSU-Prozess folgenlos verhallen.

 

Doch nun kommt Bewegung in die Sache. Dengler ermittelt. Prompt kündigt die Angeklagte eine umfassende Erklärung an, und ein neuer Untersuchungsausschuss wird eingesetzt. Da will man natürlich dabei sein, wenn Denglers Mastermind, der Autor Wolfgang Schorlau, aus dem Ein-gemachten plaudert. In der ersten Reihe fummelt sein Verleger Helge Malchow an seinem Handy herum. „Vermutlich werden wir ohnehin abgehört“, murmelt er. Selten operiert ein fiktionaler Krimi so sehr an einer offenen Wunde der Wirklichkeit, auch wenn Schorlaus Detektiv mit dergleichen Eingriffen ja schon Erfahrung hat. Hier aber geht es, wie auf dem Buch-Einband zu lesen ist, um die „Anatomie eines Staatsverbrechens“. So ist dieser Abend so spannend wie ein Prozess, und der Hospitalhof wird zum Gerichtshof.

Verstoß gegen das Einmaleins der Spurensicherung

Die Fragen stellt der SWR-Redakteur Wolfgang Niess, für Dengler antwortet sein Autor, was in Ordnung geht. Denn erstens offenbart sich bei dieser Gelegenheit das innige Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf, und zweitens sind alle wesentlichen Sachverhalte von der Wirklichkeit gedeckt und mit Fußnoten sauber belegt. Aber wie kommt ein armer Schlucker wie Dengler, der sich mit der Observation lebenslustiger Ehefrauen sein Geld verdienen muss, an diesen Fall? Schorlau erzählt, wie er auf einer Gedenkfeier für die Opfer des Nagelbombenattentats eingeladen war, das der NSU in der Kölner Keupstraße begangen hat. Er habe Leute kennengelernt, die unglaubliche Geschichten erzählten, Dinge, die in schärfstem Gegensätze zur offiziellen Version der Ereignisse standen. „Da habe ich mir gedacht, das könnte etwas sein, was Dengler sicher interessieren wird.“ So war es dann auch. Und plötzlich findet sich die kleine Detektei im Bohnenviertel im Sog dieses skandalösen Falls um die üblen Machenschaften von Geheimdiensten und Staatsorganen.

In diesen Sog gerät auch das Publikum. Schritt für Schritt legt Schorlau die fatalen Widersprüche in der offiziellen Wahrheitserzählung um den angeblichen Selbstmord der beiden Terroristen in allen grässlichen Details offen. Hier fehlen ein paar Kilo Gehirnmasse, dafür liegt dort eine Patronenhülse zu viel. Nichts passt zusammen, und der ungeheure Verdacht erhärtet sich immer mehr: dass die schützendes Hand des Staates selbst am Abzug war. „Kein Krimiautor würde es wagen, so hanebüchene Sachen zu schreiben, wie sie an diesem Tatort passiert sind“, sagt Schorlau. Dass gegen das Einmaleins der Spurensicherung eklatant verstoßen wurde, leuchtet auch dem kriminalistischen Laien ein, der seine Ausbildung sonntagabends vor dem Fernseh-„Tatort“ genossen hat. „Entspricht das wirklich der Wahrheit?“, fragt entwaffnet der Moderator Wolfgang Niess. „Bedauerlicherweise ja, all das hat sich in der Wirklichkeit so zugetragen.“

Kurz vor dem großen Durchbruch

Von der angekündigten Erklärung Beate Zschäpes erwartet sich Schorlau einiges. „Ich bin wahnsinnig neugierig, sie kann erklären, wer das Feuer in dem Camper gelegt hat, in dem Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, und sie wird auch einiges zu sagen haben über die Verbindungen der rechten Szene zu den Geheimdiensten.“ Auch andere seien gerade dabei, ihr Schweigen zu brechen. Optimistisch zeigt er sich in Bezug auf den neuen Untersuchungsausschuss. „Möglicherweise stehen wir kurz vor dem lange erwarteten Durchbruch in diesem Verfahren.“

Aber wie kam Schorlau an seine Informationen? „Hier sind ja keine Dienste im Raum“, antwortet er verschmitzt, „dann kann ich es ja sagen“. Erstmals habe er mit einem professionellen Rechercheur zusammengearbeitet. Dadurch wurde vieles möglich. Außerdem sei er von vielen „tollen Polizisten“ unterstützt worden. Auch die Stuttgarter Zeitung ist im Spiel. Als Reaktion auf ein Interview seien einige Leute auf ihn zugekommen, die ihm neue Quellen erschließen konnten. „Dass sich Staatsorgane schuldig machen, mag in Teilen zu ihren Aufgaben gehören“, sagt Schorlau am Schluss. „Aber die Beförderung der Neonaziszene ist ein Verbrechen.“ Szenenapplaus.

Eigentlich könnte man nach diesen Einsichten den Blues kriegen. Das ist auch der Fall. Zu einem alten Südstaaten-Blues greift Schorlau selbst zur Mundharmonika. Dengler hätte das sicher gefallen. Mit diesem Trost klingt der Abend aus, der den dunklen Horizont dieses unfassbaren Verbrechens mit einer Sternstunde engagierter Literatur überwölbt.

Der Mann mit der Mundharmonika