Auszeichnungen fliegen dem 45-Jährigen nur so zu. Nun hat Jan Wagner die wichtigste erhalten, die im literarischen Leben Deutschlands vergeben wird. Für die Lyrik ist das ein erfreuliches Signal, doch die Zugänglichkeit, die man an Wagner rühmt, hat auch ihren Preis.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Schon wieder – das ist die erste Reaktion, die einen bei der Nachricht durchzuckt, dass der Büchnerpreis in diesem Jahr an den Lyriker Jan Wagner geht. Und wie das bei Déjà-vu-Erlebnissen häufig der Fall ist, hinterlassen sie ein Gefühl der Ungewissheit: Läuft die Zeit nun vorwärts oder rückwärts, tritt sie gar auf der Stelle. Vor gut zwei Jahren hat man Ähnliches schon einmal erlebt, als Jan Wagner beim Leipziger Buchpreis überraschend die belletristische Konkurrenz aus dem Feld geschlagen hat und als erster Lyriker mit einer Auszeichnung prämiert wurde, die versprach, die Gattung auflagen- und aufmerksamkeitsökonomisch aus ihrem Nischendasein zu erlösen.

 

Und man nahm für dieses Hoffnungszeichen gerne in Kauf, seine Aufmerksamkeit voll und ganz Silberdisteln, Morcheln, Maulbeeren und Mücken zuzuwenden, wie sie Wagners „Regentonnenvariationen“ um sich scharten. Denn erstens teilen seine makellosen Verse mit der besungenen Maulbeere die Eigenschaft, zumindest verbal gut im Mund zu liegen, wenngleich weniger dunkel, dafür umso süßer. Und zweitens ist es nie falsch, die Aufmerksamkeit auf die weitgehend im Verborgenen wirkenden Dichter zu lenken.

Virtuoses Spiel mit traditionellen Formen

Warum, hat Wagner selbst in der Einleitung zu einem weiteren seiner wohlgeratenen Bände, „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“, formuliert: „Denn selbst die wenigen unter ihnen“, heißt es da, „die ihr Tun einen Beruf zu nennen wagen, weil sie ihre Zeilen in Zeitschriften oder gar in Büchern gedruckt sehen dürfen, erreichen nur eine so lachhaft geringe Anzahl ihrer Mitmenschen, dass es fast richtiger wäre zu sagen, sie erreichen überhaupt niemanden.“ Wie man sich als Produzent solcher Vergeblichkeiten fühlt, konnte man Wagners Dankesrede für den Mörikepreis der Stadt Fellbach entnehmen. Bei einer Festtagsrunde im sommerlichen Garten von Großmutter Edith sei er von deren Freundin gefragt worden, was er beruflich so treibe. Nach der wahrheitsgemäßen Auskunft, er mache Gedichtbände, habe die Dame ihn nur stumm angesehen und zur Großmutter zugewandt ausgerufen: „Edith, der Bienenstich ist wunderbar.“

Mittlerweile dürfte der Großmutter Freundin wohl versöhnt sein. Die zahlreichen Auszeichnungen im Rücken erzielt Wagners lyrische Botanik märchenhafte Verkaufszahlen. Seitdem wärmen sich Kritiker und Kommentatoren am wiederaufgeflammten Interesse an Gedichten, dass es, während der Populismus rumort, wieder eine Öffentlichkeit für das Nichtpopuläre zu geben scheint, die Sehnsucht nach einer widerspenstigen, unverbrauchten Ausdrucksform.

Nun also schon wieder, Jan Wagner, diesmal mit der bedeutendsten Literaturauszeichnung, die das Land zu vergeben hat. Und doch hat die an Wagner gerühmte Zugänglichkeit ihren Preis. Und er fällt immer mehr ins Gewicht, je höher die Auszeichnungsspirale den 45-jährigen gebürtigen Hamburger zu einer Art Alleinvertretungsanspruch der zeitgenössischen Lyrikproduktion schraubt. Seit seinem Debüt „Probebohrung im Himmel“ von 2001 pflegt Wagner ein virtuoses Spiel mit traditionellen Formen. In der kargen Düsternis, die die Nachkriegslyrik hinterlassen hat, brennt er munter Feuerwerke von Reimen, Assonanzen und Konsonanzen ab, wendet sich von den schlechten Nachrichten, dem Schwergewicht der Welt luftigeren Dingen zu, „als hätten sich alle buchstaben / auf einmal aus der Zeitung gelöst / und stünden als schwarm in der Luft“, wie es in dem „Versuch über Mücken“ heißt. Noch in der buchstäblichen Entbundenheit freilich erweist sich Wagner als virtuoser Mückendompteur, zwingt sie in klassische Formationsflüge, Sonette, Villanellen, Elegien. Doch weniger in den Gegenständen, der Neigung zum Kleinen, der Naturandacht, dem gepflegt Gebildeten als in der formalen Geschmeidigkeit liegt ein Moment der Affirmation und Zähmung.

Wo sich Pop und Biedermeier gute Nacht sagen

„Ein gelungenes Gedicht ist verblüffend und neuartig, weil es etwas so fasst, so sagt, wie es zuvor nicht gesagt worden ist, doch sollte es dabei so wirken, als sei es das Selbstverständlichste.“ So hat Wagner sein poetologisches Programm einmal zusammengefasst. Wo die dunkle, ungebärdige Sprache der Lyrik einmal über das Vorhandene hinausgeführt hat, begnügen sich seine literarischen Rollenspiele und philologischen Fingerübungen mit beflissener Poetisierung.

Den gewaltigen Abgrund der Ironie, den die Romantiker zwischen die einfachen Dinge und die unendlichen Möglichkeiten der Subjektivität gelegt haben, überspringt der frischgebackene Büchner-Preisträger mit einem eleganten Satz. Ironie gehört heute zur Grundausstattung, und auch wenn man Wagner kaum mit der forcierten Oberflächenkunst der Popliteratur zusammenbringen kann, führt sein ästhetisch konsensfähiges Werk doch an einen Punkt, an dem sich Pop und Biedermeier gute Nacht sagen.

Vielleicht war das ja die strategische Absicht der Jury – neben der, eine Lanze für die Lyrik zu brechen –, gleichsam als ein deutsches Seitenstück zu Dylans Nobelpreis-Kür. Populäre Gedichte für viele. Schade nur, dass damit ein großer Teil der aktuellen Lyrik weiterhin in kleinen Auflagen nur im Schatten blüht. Ist der Büchnerpreis für Jan Wagner nun also eine angemessene Entscheidung? Die Maulbeeren jedenfalls sind wunderbar.