Sibylle Lewitscharoff ist in Darmstadt mit dem wichtigsten Buchpreis Deutschlands ausgezeichnet worden und hat eine bissige Rede gehalten.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wie süß, ein Dackel! Ein Löwe, damit hätte man rechnen müssen, seit Sibylle Lewitscharoff ihn vor zwei Jahren zum Wappentier ihres letzten Romans „Blumenberg“ gemacht hat. Nicht zuletzt auf seinem Rücken wurde sie dorthin getragen, wo sie nun jene Trophäe ergriffen entgegennimmt, die sie selbst als die „naturgemäß schönste und ehrenvollste“ bezeichnet – den Büchnerpreis. Wobei ergriffen sich bei dieser Autorin so anhört: „Die Dankbarkeit ist bis in die feinsten Knöchelchen meiner Existenz geschlupft.“

 

Aber nicht erst von Worten wie „Knöchelchen“ und „schlupfen“ animiert steht plötzlich statt eines stolzen Löwen ein kleiner wurstiger Dackel im Raum. Ihn hat vielmehr die Literaturkritikerin Ursula März in ihrer Laudatio als den eigentlichen tierischen Mittelpunkt im Werk Lewitscharoffs philologisch geschickt heraufbeschworen, und seinem lang gezogenen Leib allerhand zu tragen aufgegeben.

Geistige Zerrüttung ist ihr Hausthema

Des Dackels Kern, wie er sich demnach eher unauffällig durch Romane wie „Montgomery“ oder „Apostoloff“ schnüffelt, sei nichts geringeres als eine Konfiguration des Trostes und der Erlösung in einer von entsetzlichen Erfahrungen und Verunsicherungen heimgesuchten Welt, in der ein elfjähriges Mädchen nach dem Selbstmord ihres Vaters zurechtkommen musste und in Büchern sowie eben einem kleinen Dackel ein Unterpfand des Trostes fand.

Aus dem elfjährigen Mädchen ist nun also eine Säulenheilige der deutschen Gegenwartsliteratur geworden – vermutlich die einzige, die nichts dagegen einzuwenden hat, wenn ihr Postament von einem Dackel markiert wird. Warum auch? Die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hat der gebürtigen Stuttgarterin nicht zuletzt wegen ihres „erfrischend unfeierlichen Sprachwitzes“ die mit 50 000 Euro dotierte Ehrung zukommen lassen. Und bei dem Festakt im Staatstheater in Darmstadt ließ sie denselben sogleich an dem großen Sohn der Stadt und Namenpatron ihres Preises aus, an Georg Büchner. Die Theaterschriften dieses „begabten Bürschles“ hätten sie eigentlich nie sonderlich interessiert, wohl aber sein „Lenz“, wegen dessen geistiger Zerrüttung, ihrem persönlichen Hausthema, das sie wieder und wieder umtreibe.

Segelmanöver des Denkens und Fühlens

Darauf durfte man gefasst sein. Doch gewinnt die Wahnkundige dem Thema durchaus frische Töne ab, in dem sie eben nicht nur die genialische Randgebietserforschung der verrückten Seinsweise feiert, sondern auch deren Zumutungen für die Mitwelt bedenkt. Lenz’ „ruheloses Ewigkeitsgejage, sein kopfhängerisches Gemurmel, das halbherzige Selbstmordgefummel“ – wie anstrengend für seine Mitmenschen. Lewitscharoff weiß, wovon sie spricht, deshalb mag man ihr nachsehen, wenn sie frei heraus bekennt, im wirklichen Leben „einen Riesenbogen um die massiv Gestörten“ zu machen. Aber auf dem Papier: da „bringt mich ihr Geistbraus in Schwingung, da laden sie zu Höhenflügen ein, da erfahre ich von unerhörten Segelmanövern des Denkens und Fühlens“.

Zwei inspirierende Sonderlinge zitiert sie herbei: Der eine ein maushaft unscheinbares Geschöpf, dem sie in einem Dokumentarfilm über eine psychiatrische Künstlerkolonie begegnet ist; ein „Verschwindibus“, der seiner Unscheinbarkeit zum Trotz auf kuriose Weise ihren Vorstellungen vom Guten Wahren und Schönen genügt, weil – frei nach der Bergpredigt – das Rätsel der menschlichen Existenz eher in den Beladenen als den Mondänen verborgen sei.

Die Verrücktmacher Geld und Geschlechtlichkeit

Der andere ist der italo-amerikanische „Weltgehäuskünstler“ Achilles Rizzoli. Die gezeichneten Architekturvisionen diese Art-Brut-Kauzes wuchsen sich in privatmythologische Verästelungen aus, in die zusehends seine nähere Mitwelt entrückt wurde, eine berauschende Märchenwelt, die nach Rizzolis Tod 1982 sang und klanglos unterging. Schalkhaft beschreibt Lewitscharoff deren Ausformung in fiktive Akademien und Clubs wie eine Parodie auf jene Institution, deren Ehrung sie gerade teilhaftig wird.

Nun aber hat ihr lustiger Dackel Witterung aufgenommen. Während sich das Publikum bisher kulinarisch an drolligerhabenen Wortballungen erbauen durfte, zieht das kleine Untier jetzt mit keckem Löwenmut aus den Gefilden des künstlerisch geadelten Wahns in die Mitte der Gesellschaft. Angestachelt von den beiden großen Verrücktmachern Geld und Geschlechtlichkeit generiere diese pausenlos neue Formen der geistigen Wirrnis.

Grauenhafte Schändungen der Grammatik

Jeder wird munter angebellt: die dem Börsenfieber verfallenen Menschen („ziemlich plemplem“), die vor ihren Bildschirmen hockende und dadurch realitätsuntauglich werdende Jugend – und die Frauen. „Die Frauenbewegung in Deutschland und den USA ist ein Trampolin für ausgeschnitzte Verrücktheiten.“ Was sie damit meint, erhellt eine Grußadresse an den Präsidenten der Akademie, die Professorin (sic) Heinrich Detering – eine grauenhafte Grammatikschändung habe die Bürokratie unterwandert und die Universitäten voll im Griff. „Wer weiß, vielleicht stimmt, was misogyne Spötter sagen: im Schädel einer Frau befinde sich kein Hirn, da kollere bloß eine taube Nuss herum.“ Pfui, möchte man dem Frechdackel an dieser Stelle zurufen. Aber waren Streitbarkeit und polemische Schärfe nicht Eigenschaften, die ihre Laudatorin als Wesensmerkmale dieser „Femme de lettre“ gepriesen hat? Oder sollte man von Lewitscharoff lieber als „Homme de lettre“ sprechen?

Auch wer sich von ihren mutwilligen Invektiven gegen Alltagsirre und feministische Grammatikerinnen brüskiert fühlt, muss einräumen, dass ihre wie immer auf Suebismen und Neologismen daher tänzelnde Rede witzig und bissig unter Beweis stellt, dass es in dem deutschen Literaturbetrieb ohne diese Stimme mit Sicherheit eintöniger zuginge. Gut gebrüllt, Dackel.