Sibylle Lewitscharoff hat schon eine ganze Reihe wichtiger Auszeichnungen eingesammelt. Nun folgt die Krönung: die in Stuttgart geborene Schriftstellerin erhält in diesem Jahr für ihr Werk den Georg-Büchner-Preis.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Darmstadt - Es gibt Hüter der Erinnerung, die darauf halten, dass nur ein toter Dichter ein guter Dichter sei. Das mag für Georg Büchner gelten, nicht aber für die in seinem Namen Geehrten. In diesem Jahr ist es die in Stuttgart geborene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, deren Werk mit dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geadelt wird. „In ihren Romanen hat sie mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Fantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere alltägliche Wirklichkeit halten, neu erkundet und infrage gestellt“, heißt es in der Begründung. Die tiefe Zustimmung, die der Lewitscharoff-Leser angesichts dieser Wahl empfindet, reicht eigentlich schon völlig aus, den moribunden Satz vom toten Dichter zu widerlegen.

 

Unter den Lebenden ist die 59-Jährige vielleicht die Lebendigste. Und doch entbindet ihr Schreiben seine Kraft, seine Qualität, ja, auch seinen Witz letztlich aus einer eigentümlichen Liaison mit dem Tod. Nur ein Buch, in dem ordentlich gestorben wird, ist ein gutes Buch. Oder in Lewitscharoffs eigenen Worten: „Scheingefechte mit den Toten anzuzetteln gehört zu den noblen Aufgaben der Literatur.“

Dieser Aufgabe ist diese in ihrer Erscheinung so diesseitige, weltlustige, lichte Autorin nahezu in jedem ihrer Bücher bisher gerecht geworden. Der Roman „Montgomery“ schildert den Exodus aus der gutbürgerlichen Beklemmung einer unglücklichen Kindheit in Degerloch, der im Exitus in Rom endet; in „Apostoloff“ unternehmen zwei Schwestern eine tragikomische Höllenfahrt in die bulgarische Herkunftswelt des toten Vaters; umgekehrt kehrt der versoffene Protagonist in „Consummatus“ gerade von einer Fahrt ins Totenreich zurück; und in „Blumenberg“, ihrem bisher letzten Roman, bezahlen vier Studenten ihre Nähe zu dem gleichnamigen Philosophen mit allen möglichen Todesarten.„Ich habe mich im Verdacht“, sagt Lewitscharoff in einer ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen, „dass ich eine wichtige Figur nur deshalb sterben lasse, weil ich sonst nicht weiterwüsste.“ Man liegt nicht falsch, neben grausamer Autorenwillkür hier auch ein Augenzwinkern mitzudenken, was möglicherweise noch leichter fällt, hat man das Glück, ihr auch nach dreißig Jahren Berliner Luft munter-aufsässiges Schwäbisch mitzuhören. Denn Lewitscharoffs Verhandlungen mit dem Jenseits sind frei von jeglichem finsterem Obskurantismus, sie strotzen vielmehr vor sinnlicher Lust. Und je dunkler der Abgrund, in den sie sich wagt, desto filigraner, luftiger, leichter das Sprachwerk, das sich von ihm abhebt.

Degerloch, ein Schauplatz der Weltliteratur

Wie beim Scherenschnitt – einer Kunst übrigens, in der Lewitscharoff nicht nur über bemerkenswerte Kenntnisse, sondern auch über beachtliche Fertigkeiten verfügt; viele der Einbände ihrer Bücher hat sie selbst gestaltet. Auch wenn die Zweidimensionalität dieser Papierverarbeitung nur einen unzureichenden Begriff von der Vieldimensionalität ihrer Bücher gibt, das Prinzip der Collage und des scharfen Schnitts eint beide. Virtuos kombiniert sie die eigenen biografischen Erfahrungen mit solchen, die ihr lesend zugewachsen sind, schwäbischen Hintersinn mit alexandrinischer Gelehrsamkeit, Universalgeschichte mit deutschen Katastrophen, metropolische Neugier mit der eigenen Kindheit in Degerloch. Sibylle Lewitscharoff gebührt das Verdienst, den Ort auf Stuttgarts Höhen zum Schauplatz der Weltliteratur gemacht zu haben.

Hier wurde die Autorin 1954 als Tochter einer Deutschen und eines bulgarischen Arztes geboren. Hier erlebte sie als Elfjährige das Trauma des väterlichen Suizids. Hier empfing sie durch die verehrte Großmutter eine pietistische Prägung, der sie nach allerlei Abstechern zu parareligiösen K-Gruppen, einem Studium der Religionswissenschaft, zumindest im unbedingten Glauben an das Wort die Treue bewahrt hat. Und hier entledigte sie sich in einem der „Zeit“ freimütig geschilderten LSD-Erlebnis des Muffs ihrer Kindheit. Doch zur Erleuchtung bedarf es keiner Drogen. Ein gutes Buch reicht. Wer „Apostoloff“ liest, lernt andere Formen kennen, sich über das Vergangene zu erheben. Ingrimm, Ironie, „gutmütig gepflegter Hass“ – und höchstens hin und wieder ein Gläschen Eierlikör. Ansonsten setzt Lewitscharoff in Fiktion und Wirklichkeit auf die Dienste klaren Wassers. Von kristalliner Klarheit und heiterer Nüchternheit jedenfalls ist das Vergnügen an ihren Texten. Trunken ließen sich ihre bisweilen vertrackten Satzgebilde gar nicht bewältigen.

Stipendiatin in Rom

Seit mehr als dreißig Jahren lebt Sibylle Lewitscharoff nun schon in Berlin, zusammen mit ihrem Mann, dem Künstler Friedrich Meckseper. Doch Degerloch ist der Abgrund der Erinnerung, an den sie immer wieder zurückehrt, aus dem sie Menschen aus Fleisch und Blut hervortreten lässt: Menschen wie jenen Filmproduzenten Montgomery Cassini-Stahl, der in Rom an dem Versuch scheitert, den württembergischen Justizskandal um Josef Süß Oppenheimer neu zu verfilmen.

Wo die einen untergehen, gelangen die anderen zu höchsten Ehren. Zurzeit hält sich die Autorin ebenfalls in Rom auf, als Stipendiatin der Villa Massimo. Hier hat sie von der neuen, mit 50 000 Euro dotierten Auszeichnung erfahren. Nach dem Bachmannpreis, dem Preis der Leipziger Buchmesse, nun also der Büchnerpreis: „Ich fühle mich wie eine kleine, tapfere Schriftstellerin im Literaturkanon“, sagte sie zu der Nachricht und vollführte einen Freudentanz. Wir gratulieren.