Dutzende Radwege, Schulhäuser, Plätze, auch Blödsinn ist im Bürgerhaushalt aufgelistet. Zu aufwendig, zu umfangreich, zu chaotisch – urteilt der Bezirksbeirat Mitte und fordert ein neues Regelwerk.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Der Bürgerhaushalt leidet gleichsam am Fluch seines Erfolges. „Wir sind da auf einige Probleme gestoßen“, sagt der SPD-Bezirksbeirat Matthias Vincon. Die haben zuvorderst damit zu tun, dass die aktuelle Auflage der Ideensammlung fürs Geldausgeben die bisher umfangreichste ist. Rund 3700 Vorschläge standen zur Auswahl. „Viele nehmen sich gegenseitig Stimmen weg“, sagt Vincon, „und viele sind gar keine Vorschläge für den Haushalt“ – also solche, die sich nicht mit der Frage befassen, in was die Stadt in den nächsten zwei Jahren investieren sollte. Auch Scherze kursieren, etwa der, den Bahnhof zum Bungeeturm umzuwidmen.

 

Die 130 am besten bewerteten Ideen werden in den betroffenen Ämtern auf Tauglichkeit gesichtet und mit Stellungnahmen versehen. Mithin bleiben mehr als 3500 Vorschläge unbeachtet. Was nicht beachtet wird, „führt zu Frustrationen“, meint Vincon. Mit seiner Meinung ist der Sozialdemokrat keineswegs allein. „3700 Vorschläge kann kein Mensch lesen“, sagt die Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle, „spätestens bei 120 hören die meisten Menschen auf“.

Die Beiräte wollen die Vorschläge bündeln

Der Bürgerhaushalt soll neu erdacht werden. So beschloss es der Bezirksbeirat einstimmig. Die Stadtverwaltung möge prüfen, ob die Vorschläge sinnvoll gebündelt werden können, auf dass der Bürger nur noch darüber abstimmt, ob ihm die Sanierung von Schulen oder das Pflanzen von Bäumen wichtig ist – nicht mehr über jeden Wunsch für jede einzelne Schule oder jeden Wunsch nach jedem einzelnen Baum.

Dass die nächste Abstimmung der Bürger übers städtische Geld anders verlaufen wird, ist keineswegs ausgeschlossen. „Nach jedem Durchgang findet eine Evaluation statt“, sagt Dietmar Kern von der Stadtkämmerei, „die Frage nach der Weiterentwicklung steht auf jeden Fall im Raum.“ Jene Evaluation – also die Auswertung der Datenflut – wird aber frühestens zu Beginn des neuen Jahres vorliegen.

Derzeit ist die Kämmerei mit dem Sortieren jener 130 beliebtesten Ideen beschäftigt. „Da kommen Berge von Papier zusammen“, sagt Kern. Bisher haben alle Bezirksbeiräte die zehn bestplatzierten Forderungen ihrer Bezirke bewertet, sich ihnen angeschlossen oder sie abgelehnt. Die Ämter prüfen auf Machbarkeit und Kosten. Über die so sortierte Liste samt aller Stellungnahmen entscheidet am Ende der Gemeinderat. Allerdings wird sie bestenfalls kurz vor Beginn der Sommerferien fertig. Der Sache verbundene Stadt- oder Bezirksbeiräte suchen sich aus der Gesamtliste weitere Vorschläge, die sie befürworten wollen und formulieren eigene Anträge.

Neue Erfahrungen werden nach jeder Runde besprochen

Erste Erfahrungen mit der aktuellen Runde sind bei einem Treffen bereits besprochen worden – wie nach jedem Bürgerhaushalt. Eine Entscheidung über mögliche Änderungen fällt aber erst im nächsten Frühjahr. „Da sind wir dann offen für Anregungen“, sagt Dorothee Reick, die sich in der Kämmerei ebenfalls mit dem Bürgerhaushalt befasst. Die Bündelung nach Rubriken hält sie allerdings nicht für die beste Lösung. „Das soll ja auch eine Ideenfindung für den Gemeinderat sein“, sagt Reick. Die Möglichkeit, nach Rubriken zu filtern, besteht bereits. Auf der Internetseite zum Bürgerhaushalt können Vorschläge zu bestimmten Stadtbezirken gesucht werden oder auch solche aus bestimmten Rubriken wie Umwelt oder Verkehr. Wer sich für ein spezielles Thema interessiert, kann auch nach Stichwörtern suchen.

Rund 100 Kommunen bundesweit veranstalten eine Abstimmung über die Verwendung von Teilen ihres Haushaltsetats. Die Verfahren sind dabei höchst unterschiedlich. Das häufigste ist das in Stuttgart angewandte. Andere Gemeinden gehen einen völlig anderen Weg. Sie entkoppeln den Bürgerhaushalt vom tatsächlichen und stellen ein Budget aus der Stadtkasse zur Verfügung, über das der Gemeinderat keine Entscheidungsgewalt mehr hat, sondern nur noch die Bürger.

Zwischen diesen beiden Polen existieren etliche Kompromisse, manche sind noch weit verwirrender als der Stuttgarter Weg. So ist es auf der Internetseite buergerhaushalt.org zu lesen, die die Bundeszentrale für politische Bildung betreibt. Mit dem Fazit: das ideale Verfahren ist noch nicht erdacht.