Syrien befindet sich im vierten Jahr nach Beginn des Aufstandes gegen das Regime. Immer noch explodieren täglich Bomben in der syrischen Stadt Aleppo. Die Menschen gehen trotzdem auf den Markt.

Aleppo - Am Himmel über Aleppo breitet sich eine schwarze Wolke aus. Wieder hat eine Fassbombe einen Teil der Stadt zertrümmert, abgeworfen von einem Hubschrauber der syrischen Assad-Armee. Ganz langsam verweht der Wind den Rauch der Explosion, bis nur noch dunkle Schleier über der Abwurfstelle stehen bleiben.

 

Syrien im vierten Jahr nach dem Beginn des Aufstands gegen das Regime: 140 000 Menschen sind in den brutalen Auseinandersetzungen umgekommen. So lauten Schätzungen, denn die Vereinten Nationen haben aufgehört, die Toten zu zählen. Der Vormarsch der Rebellen ist seit einem Jahr von der Assad-Armee dank der Unterstützung durch Russland, den Iran und die libanesische Hisbollah-Miliz abgewürgt. Die Aufständischen haben schwere Niederlagen einstecken müssen. Viele ihrer Hochburgen sind von der syrischen Armee eingenommen worden oder befinden sich im Belagerungszustand.

Nur wenige sind geblieben

Die Metropole Aleppo ist zu einem hageren Gespenst ihrer selbst abgemagert. Nach der Terrorherrschaft und dem Abzug der Al-Kaida-nahen Islamisten ist die Stadt umzingelt. In vielen Vierteln tobt ein verbissener Häuserkampf zwischen Rebellen und der Armee. Von den Millionen, die einst die Stadt bevölkerten, sind nur noch wenige geblieben. Es sind jene, die sonst keine andere Zuflucht haben, keine Verwandten auf dem Land oder in der Türkei. Seit Monaten wirft das Regime Fassbomben auf ihre Viertel ab. Die Bomben – mit Sprengstoff und Metallteilen gefüllte Fässer – sind billig und leicht herzustellen.

Zuletzt traf es ein Viertel in der Altstadt, das nun in Trümmern liegt. 15 Menschen sind umgekommen, vier Frauen und elf Kinder. Hassan Dawara läuft aufgebracht durch das Chaos aus Steinbergen neben der Straße. „Hier waren doch keine Soldaten, keine Stellungen!“ Er kann es nicht fassen, sein Frust entlädt sich schubweise, als hätte er sich seit Wochen angestaut. „Ich konnte sie nicht schützen“, klagt der bärtige Koloss. Er wiederholt diesen Satz immer wieder – wie einer, der sein Seelenheil verloren hat. Auf allen vieren klettert er einen Trümmerberg hoch, kniet sich nieder und gräbt mit den Händen unter zerbrochenen Betonplatten und einzelnen Steinen. Irgendwo in dieser Ecke muss es gewesen sein, wo er die Leichen von zwei Mädchen und einem Baby fand.

Dann läuft er weiter zu den Überbleibseln eines Hauses, das hier stand. Ein kleiner Raum, dessen Wände teilweise von der Wucht der Explosion weggefräst wurden, ist noch zu erkennen, ebenso wie ein kleines Badezimmer, das dahinter liegt. Der 42-jährige Mann bleibt reglos davor stehen, seine Schultern erschlaffen, die Stimme versagt. Er erlebt den Moment wieder, in dem er die Leichen fand. „Eine Mutter und ihre beiden Kinder waren hier“, sagt er. „Sie hatten Schutz gesucht, doch der Luftdruck der Explosion tötete sie.“

Ziele der Armee sind Schulen und Krankenhäuser

Zurzeit wirft die syrische Armee täglich Bomben über der Stadt ab, vor allem über Wohngebieten. Ein Morgen, an dem bis zum Mittag nur fünf eingeschlagen sind, gilt als friedlich. Die Menschen haben sich daran gewöhnt und laufen trotzdem durch die Straßen, zum Markt oder um Öl für den Generator zu kaufen. Auch im Viertel Shaar, einem häufig angegriffenen Stadtteil, sind wieder viele Menschen unterwegs. Gestern ist ausgerechnet in der Nähe des Dar-Shifa-Krankenhauses eine Bombe eingeschlagen. Seit Aleppo unter Beschuss steht, ist das große Hospital ein beliebtes Ziel des Regimes. Schon einmal wurde es komplett vernichtet, als eine Scud-Rakete einschlug. Mit Mühe bauten die Überlebenden es wieder auf.

Diesmal explodierte die Bombe genau in der Mitte einer Kreuzung. 25 Fußgänger waren sofort tot. Der 22-jährige Abu Ahmad lief sofort in das Inferno aus brennenden Autoteilen, zerfetzten Menschenkörpern und zusammenstürzenden Häusern, um Überlebende zu bergen. Dann explodierte die zweite Bombe. „Ich spürte noch, wie sich etwas in mich bohrte, dann wurde ich ohnmächtig“, erzählt er im Krankenbett mit schwacher Stimme. Splitter haben seine Magenwand aufgerissen. Sie wurde notdürftig zusammengenäht. Der Arzt neben seinem Bett erzählt, dass weitere 25 bis 35 Verletzte mit dem Krankenwagen in die 50 Kilometer entfernte Türkei gefahren wurden. Jene, deren Verletzungen zu schwer waren, um sie vor Ort zu behandeln. „Ich rechne jedoch damit“, sagt er lakonisch, „dass die Hälfte von ihnen den Ärzten unter den Händen wegsterben wird.“ Wenn die Krankenwagen nicht schon auf dem Weg in die Türkei von den Kampffliegern Assads vernichtet werden.

Tausende Kinder können nicht mehr zur Schule gehen

Ein paar Hundert Meter weiter versucht der Stadtrat der Rebellenzone Aleppos verzweifelt, die nötigsten Aufgaben einer Verwaltung zu erfüllen. In einem hallenartigen Gebäude wuseln zwei Dutzend Mitarbeiter um Schreibtische herum. Sie telefonieren im Schein der Neonlampen und besprechen die Situation. Ihr Chef ist Abulaziz Maghrabi, der vor ein paar Monaten in dieses Amt gewählt wurde. Der 35-Jährige ist ein Veteran der Bürgerbewegung. Von Anfang an demonstrierte er gegen das Regime und wurde immer wieder von den Schergen Assads verprügelt und verhaftet.

„40 bis 60 Prozent der Stadt sind zerstört“, sagt er. Mindestens die Hälfte der Bewohner sei geflohen. Nur durch Spenden und Gelder des syrischen Nationalrats im Ausland könnten sie den Betrieb aufrechterhalten, könnten zum Beispiel dafür sorgen, dass der Müll weggeräumt wird, damit keine Epidemien ausbrechen. Maghrabis Stimme ist heiser. Er weiß, dass Aleppo ohne Hilfe verloren ist, selbst wenn er mehr als seine üblichen 18 Stunden am Tag dafür arbeiten würde. „Tausende Kinder können nicht mehr zur Schule gehen“, sagt er, denn diese Gebäude seien oft genug Zielscheibe des Regimes. „Deswegen haben wir kleine Schulgruppen in Wohnungen verteilt“, sagt er. „Dann werden nicht so viele Kinder auf einen Schlag getötet.“

Feuerwehrmänner suchen nach Überlebenden

In diesen Tagen ist das Bombardement der Assad-Armee besonders aggressiv, vielleicht weil die Rebellenarmee FSA (Free Syrian Army) ein neues Gebiet eingenommen hat. Die Wohnungen in Aleppo sind mit Vorhängen und Rollläden verdunkelt, damit kein Licht nach außen dringt. Plötzlich ist das Rattern der Hubschrauberrotoren zu hören, dann das tiefe Grollen einer Explosion. Ein zusammenbrechendes Gebäude lässt den Boden erzittern. Wenig später jagt ein Kampfflugzeug über Aleppo hinweg. Als es in den Sturzflug geht, um eine Rebellenstellung oder ein anderes Ziel anzugreifen, wird das Fauchen der Triebwerke eindringlicher. Wieder eine Bombenexplosion, auf die nach wenigen Minuten wie eine Antwort der Abschuss einer Mörsergranate durch die Rebellen folgt. Erst im Morgengrauen herrscht für wenige Minuten eine Feuerpause.

Zwei Tage später rasen wieder Krankenwagen durch Aleppo. Eine Menschenmenge hat sich in einer engen Gasse versammelt. Ein paar Männer rufen „Allahu Akbar“ – Gott ist groß. Es klingt kraftlos. In der Querstraße ist eine Bombe eingeschlagen, die Fassade ist unter dem Druck der Explosion auf die Straße gefallen. Im Untergeschoss des Gebäudes lodern mannshohe Flammen. Aus dem Stockwerk drüber quellen dichte Rauchwolken. Angestellte des städtischen Zivilschutzes und Feuerwehrleute nähern sich dem Inferno und suchen nach Überlebenden.

Kein Gehör für religiöse Eiferer

Als das Rufen eines Kindes hörbar wird, klettert ein Feuerwehrmann ins brennende Gebäude. Er trägt weder ein Atemschutzgerät noch eine Maske, nur einen dünnen Mundschutz. Wenig später taucht er wieder auf und steigt taumelnd mit dem Kind auf dem Rücken die Leiter hinunter. Vom giftigen Rauch muss er sich fast übergeben. Zwei Frauen konnten nicht mehr gerettet werden. Sie starben direkt durch die Explosion.

Im Staub der Trümmer findet ein Passant einen Koran und hebt ihn auf. Wütend flucht er auf Assad, der mit seinen Bomben selbst vor der Religion nicht haltmache. Doch mit seinem religiösen Eifer ist der Mann allein. Die anderen Passanten beklagen einfach nur das Elend, das die Bomben verursachen, die vielen Toten, die Assads Armee auf dem Gewissen hat.

Auf dem Weg aus der Stadt steigt im Rückspiegel des Autos erneut eine Rauchwolke in den Himmel über Aleppo. Dieses Mal stehen die Schwaden über dem Stadtteil Hanano, wo nur Zivilisten wohnen. Auch an diesem Tag dürften wieder Dutzende ums Leben gekommen sein.