Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
Das klingt, als hätten Sie immer ganz ordentlich zu tun gehabt.
Oh ja. Nehmen wir nur die Jungs, die ihre Finger überall reinstecken müssen. Einer kam mal mitsamt Autoreifen zu uns. Der Zeigefinger steckte in dem Loch, wo die Radschrauben reinkommen. Ein anderer hatte seinen Finger in das Gewinde eines Baumzauns auf der Königstraße gebohrt. Die Feuerwehr musste anrücken und erst mal den ganzen Zaun abmontieren. Gewöhnlich ist es mir gelungen, die Finger mit einem Faden und viel Seife oder mit einem speziellen kleinen Schneidegerät zu befreien. Nur einmal, als ein Bub seinen Finger fest in eine Unterlegscheibe aus Federstahl gerammt hatte, musste ich die Flex nehmen. Das war heikel: Der Junge wurde in Narkose gelegt, dann habe ich einen Mundspatel zwischen Finger und Scheibe gequetscht, und dann zzzzt . . . 
Sie haben sich bald nach Ihrer Ausbildung auf das Gipsen spezialisiert.
Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten schätzungsweise 100 000 Gipse gemacht – ganze Gipsbetten, Oberkörpergipse, aber auch filigrane Gipse etwa für Säuglinge mit Klumpfuß. Mein kleinster Gips-Patient wog ganze 840 Gramm und lag in einem Inkubator. Das Pikante an diesem Job: ich bin für die Kinder immer der Böse, der ihnen wehtun muss. Ich kenne jede Sorte von Kindergeschrei. Selbst bei den ganz Kleinen höre ich sofort heraus, ob die aus Wut, aus Schmerz oder nur um des Schreiens willen schreien.
Haben Sie ein Geheimrezept gegen Dauergeschrei?
Ja, aber bevor ich dieses anwende, muss ich immer vorher die Eltern warnen. Das geht so: ich schreie kurz lauter – und zwar deutlich lauter – als das Kind. Das verstummt dann kurz vor Schreck, und ich rede sofort und ohne Unterbrechung weiter auf das Kind ein mit leiser Stimme. Diese bewährte Schreitherapie stammt übrigens von einer renommierten Stuttgarter Kinderärztin und funktioniert prima bis zu einem Alter von sechs, sieben Jahren. Dabei kommt mir übrigens wieder der Mann in mir zugute. Würde eine Frau das Schreien anfangen, glauben Sie, die Kleinen juckt das?
Wie tapfer sind Kinder heutzutage?
Es gibt 15-jährige Halbstarke, die fürchterlich rumjammern und auch mal davonlaufen, auffallend häufig aus den südlichen Gefilden Europas. Ich spreche immer von dem Phänomen Morbus méditerranée. Erst neulich mussten wir wieder einen Jugendlichen in Degerloch einsammeln. Genauso häufig erlebe ich fünfjährige Mädchen, die ungeheuer tapfer sind und keine Miene verziehen. Die schwierigste Klientel sind aus meiner Sicht die Zweijährigen. Was glauben Sie, wie die sich wehren können. Die sind wendig, haben Kraft und bieten wenig Fläche zum Festhalten. Wir brauchen manchmal vier Erwachsene fürs Gipsen.
Und die Eltern sehen nur zu?
Schön wär’s. Es gibt Mütter, die mit ihrem Kleinkind zunächst eine halbe Stunde lang diskutieren, ob es freiwillig mitmacht. Oder sie diskutieren mit mir darüber, ob man das Kind nicht besser in Narkose legt, es könnte ja sonst einen psychischen Knacks kriegen. Ich habe immer geduldig zugehört, am Ende habe ich das Kind dann geschnappt, und gut war’s. Ich bin überzeugt, dass Kinder aus behütetem Hause durchaus mit einem kurzen Schmerz klarkommen.
Eltern sind heutzutage eben unsicher, was das Beste für ihr Kind ist.
Das wirkt sich massiv auf unser Arbeitspensum aus. Wie viele kommen mitten in der Nacht wegen einer Zecke zu uns? Dafür sitzen sie bis zu sechs Stunden im Wartezimmer. Neulich rief eine Mutter von einem Parkplatz aus sogar den Krankenwagen, weil ihr Kind sich den Finger in der Autotür eingeklemmt hatte. Der Finger war völlig unversehrt, der Junge hörte aber erst auf zu schreien, als er einen dicken Verband bekam. Dann fragte die Mutter noch: Und wie komme ich jetzt zurück zu meinem Auto?