Renate Gutbrod startete im Berufsleben voll durch – bis sich ihr Leben radikal änderte: Folge 12 der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
Weil im Schönbuch - Renate Gutbrod, 61, lebt mit ihrem Mann in Weil im Schönbuch. Sie war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als eine Ader in ihrem Kopf platzte. Seitdem macht sie alles langsamer. Sie will darüber sprechen, dass sie diese erzwungene Entschleunigung im Rückblick als Geschenk empfindet.
Frau Gutbrod, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich stamme aus einer Berliner Arbeiterfamilie. Wir zogen in den 50er Jahren von Berlin nach Süddeutschland, der guten Jobs wegen. Mein Vater war gelernter Mechaniker und ließ sich auf der Abendschule zum Ingenieur ausbilden. Die Eltern wollten natürlich, dass die einzige Tochter etwas Rechtschaffenes lernt.
Haben Sie ihnen diesen Wunsch erfüllt?
Allerdings. Ich schlug eine Beamtenlaufbahn ein, machte den Abschluss zur Diplomfinanzwirtin und war viele Jahre lang im Böblinger Finanzamt für die Grunderwerbsteuer zuständig. Als sich dann mit Ende 20 – ich war bereits verheiratet – herausstellte, dass mein Mann und ich keine Kinder werden haben können, wollte ich mich beruflich verändern. Das war der Startschuss in ein turbulentes Berufsleben mit vielen Wechseln. Innerhalb von fünf Jahren arbeitete ich mich von einer Assistentenstelle in einer kleinen Personalberatung hoch zur Geschäftsführerin von Baumgartner Media. Das Unternehmen gehörte zu den fünf großen Personaldienstleistern in Deutschland.
Als Führungskraft muss man bekanntlich schnell und entscheidungsfreudig sein: Sie müssen damals auf Hochtouren gearbeitet haben.
Ich konnte viele Dinge gleichzeitig erledigen: eine Anzeige texten, delegieren, telefonieren. Ich musste Vorträge halten, Konferenzen leiten, dabei rasch auf verschiedene Gesprächspartner reagieren – das volle Programm. Aber um das gleich klarzustellen: der Stress machte mir nichts aus, ich wusste genau, wo meine Grenzen waren. Viele Leute behaupteten später, ich hätte mich überarbeitet, die Gehirnblutung sei ein Warnzeichen gewesen. Das sehe ich anders.
Sie hatten ein erweitertes Blutgefäß im Kopf. Wann platzte es?
Das war im Mai 2001. Ich stand morgens im Bad und war voller Tatendrang. Am nächsten Tag wollten wir für eine Woche auf die Insel Elba fahren – das hieß, noch rasch zwei Kunden besuchen, Post erledigen, Koffer packen. Auf einmal spürte ich einen wahnsinnigen Schmerz im Nacken, als würde da jemand reinbeißen. Und mein Kopf fühlte sich an, als hätte man mir einen Eimer übergestülpt. Ich konnte noch eine Freundin anrufen, die mich zum Hausarzt fuhr. Erst als ich dort die ganze Praxis vollspuckte, kam der Krankenwagen. Meine Erinnerung reißt irgendwo auf der Fahrt zum Ludwigsburger Krankenhaus ab. Dort bohrte man mir dann am nächsten Tag die Schädeldecke auf. Das geplatzte Blutgefäß wurde mit einem Clip geschlossen.
Wie kam es zu der Gehirnblutung?
Ich gehöre offenbar zu den sechs Prozent der Menschheit, die ein sogenanntes Aneurysma im Kopf haben. Das sind Gefäßausstülpungen, die bei einer Schwäche der Gefäßwand platzen können. Es gibt keinerlei Vorboten. Ein Drittel der Fälle endet tödlich, ein Drittel der Betroffenen lebt weiter mit schweren Behinderungen. Ich hatte offenbar das Glück, dass nur eine kleine Ader geplatzt und nicht allzu viel Blut ausgelaufen war. Denn der Teil des Gehirns, der verblutet, bleibt irreversibel beschädigt.
Wann kamen Sie wieder zu Bewusstsein?
Das Aufwachen dauerte zwei Wochen. Ich lag wie im Koma, lebte in einer eigenen Welt, in der sich die Stimmen der Ärzte und der Besucher mischten mit Erlebnissen von früher. Die Ärzte empfahlen meinem Mann, mit mir viel zu reden. Also saß er zwei ganze Tage an meinem Bett und erzählte schließlich, als ihm nichts anderes mehr einfiel, von seinen neuen Computerprogrammen. Als er mich fragte, ob er mir eine neue Version der Software Microsoft Money auf meinen PC laden soll, habe ich zu seiner großen Überraschung wohl klar geantwortet: „Das kannst du selbstverständlich bei mir installieren.“ Ich will damit sagen, dass Komapatienten mehr mitkriegen, als ihre Angehörigen vielleicht glauben. Auf keinen Fall sollten sie sich an ihrem Bett streiten, das hinterlässt immer Wunden in der Seele der Patienten.