Seit 13 Jahren beschäftigt sich der Ludwigsburger Hans-Joachim Martens mit der europäischen Sumpfschildkröte: Folge 42 der Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Region: Verena Mayer (ena)

Ludwigsburg -

 
Seit 13 Jahren beschäftigt sich Hans-Joachim Martens mit der Europäischen Sumpfschildkröte, im Jargon: Emys orbicularis. Seine Begeisterung hat mit der Zeit nichts an Intensität verloren. Kaum hat man sein Haus am schönen Rand eines Ludwigsburger Stadtteils betreten, sprudeln die Informationen aus dem Gastgeber heraus. Eine Info vorweg: eine frisch geschlüpfte Emys ist so groß wie ein Zwei-Euro-Stück und wiegt fünf Gramm. In ausgewachsenem Zustand bringt sie es auf bis zu 1000 Gramm und eine Bauchpanzerlänge von 20 Zentimeter.
Herr Martens, erzählen Sie Ihre Geschichte.
Ich bin am 3. März dieses Jahres 80 Jahre alt geworden. Seit ich auf der Welt bin, lebe ich in Neckarweihingen. Ich bin verheiratet, habe einen Sohn und einen Enkel. Als ich noch berufstätig war, unterrichtete ich vorwiegend Biologie und Chemie am Friedrich-List-Gymnasium in Asperg. Mein Interesse für die Europäische Sumpfschildkröte entwickelte sich erst, als ich im Ruhestand war. Das sind tolle Tiere, ich könnte ewig von ihnen erzählen. Ich hoffe, Sie haben ein bisschen Zeit mitgebracht.
Wie haben Sie zur Europäischen Sumpfschildkröte gefunden?
Das ist eine komische Geschichte, und sie liegt fast 70 Jahre zurück. Damals war der Neckar noch sauber, und ich bin viel darin geschwommen und getaucht. Eines Tages sah ich unter Wasser ein kleines Tier flussaufwärts paddeln. Heute vermute ich, dass das eine Emys orbicularis war, aber damals war ich über dieses komische Wesen nur verwundert. Über viele Jahrzehnte hinweg habe ich an diese Episode nicht mehr gedacht – bis ich eines Tages von einem Züchter in Rheinland-Pfalz las. Da fiel mir ein: Mensch, da war doch mal was. Ich habe den Züchter besucht und mir seine Schildkröten angeschaut. Als ich wieder nach Hause gefahren bin, hatte ich meine ersten sechs Emys orbicularis im Gepäck. Das war vor 13 Jahren.
Wie viele Schildkröten haben Sie heute?
Im Moment dürften es mehr als 35 Tiere sein.
Haben Sie Ihren Tieren Namen gegeben?
Nein, sie werden nummeriert. Immer in der Reihenfolge, wie sie geschlüpft sind. Eines hat zum Beispiel die Nummer 15 Strich 2015. Das ist also das 15. Tier, das voriges Jahr geschlüpft ist. Diese Kennzeichnung dient auch der Registrierung beim Regierungspräsidium.
Wo lebt 15 Strich 2015?
Die Tiere, die im vergangenen Jahr geschlüpft sind, lasse ich ausnahmsweise bei mir im Keller überwintern. Aber sobald es wieder wärmer bleibt, bringe ich sie in meinen Garten. Er liegt in einem Landschaftsschutzgebiet, und ich durfte dort einen schönen Teich für sie anlegen. Auch die anderen Jahrgänge leben dort. Für erwachsene Tiere birgt die Natur eigentlich nicht mehr allzu viele Gefahren.
Ach was?
Natürlich haben Jungtiere viele Fressfeinde. Deshalb habe ich inzwischen ein grobes Netz angebracht, so dass große Vögel keine Attacken mehr landen können. Was da schon alles passiert ist – furchtbar! Rabenkrähen und Elstern fielen oft über die Emys her. Diese Vögel sind richtige Biester. Sie hacken den Panzer auf oder den Kopf ab. Was habe ich schon tote Schildkröten einsammeln müssen. Das war bitter.
Was haben Sie mit den toten Emys gemacht?
Ich habe sie erst mal fotografiert – wie sich das gehört. Ich wollte ja wissen, welches Tier umgekommen war. Ich registriere alle meine Schildkröten sofort nach der Geburt. Sie werden gewogen, nummeriert und fotografiert. Jedes Tier hat ein individuelles Bauchmuster, an dem es sich sein Leben lang identifizieren lässt. Man muss nur konsequent alle halbe Jahre ein Foto davon machen.
Was fasziniert Sie an der Europäischen Sumpfschildkröte?
Sie ist ein ganz besonderes Tier. Generell gehören Schildkröten zu den ältesten Landwirbeltieren. Mit fast unverändertem Bauplan leben sie seit Millionen Jahren auf unserer Erde und überlebten sogar die Dinosaurier. Die Emys orbicularis ist für mich besonders interessant, weil sie die einzige Schildkrötenart ist, die in Deutschland natürlich vorkommt. Ihr Verbreitungsgebiet ist jedoch viel größer, und so kann man entsprechend den unterschiedlichen klimatischen Bedingungen auch unterschiedliche genetische Ausprägungen finden. Die Schildkrötenunterart, die ich habe, stammt aus dem Plattensee in Ungarn und ist vom sogenannten Haplotyp IIa, wie er auch in Frankreich in der Brenne vorkommt. In Baden-Württemberg war dieser Typ auch mal heimisch, aber wir Menschen haben ihn ausgerottet.
Warum?
Es gibt viele Gründe, aber sie sind praktisch alle menschlichen Ursprungs. So wurden Feuchtgebiete trockengelegt, um landwirtschaftlich nutzbare Flächen zu gewinnen, Straßen wurden gebaut, Siedlungsflächen geschaffen und damit Lebensräume und Nistgelegenheiten der Emys orbicularis zerstört. Ein weiterer Grund, der der Sumpfschildkröte schon in vormoderner Zeit das Leben schwer machte, war, dass sie als Fisch angesehen wurde und damit als Fastenspeise genutzt wurde.
Haben Sie auch mal eine Emys verkostet?
Nein! Das würde ich nicht tun! Auf keinen Fall!
Züchten Sie Ihre Schildkröten nur zum Spaß?
Nein. Mein Anliegen ist es, die Emys orbicularis auch bei uns wieder heimisch zu machen. Deshalb gebe ich fast alle meine Jungtiere nach Hessen, wo es ein tolles Auswilderungsprojekt gibt. Es wird vom Naturschutzbund Main-Kinzig-Kreis betreut und steht unter der strengen Obhut des dortigen Umweltministeriums. Dadurch ist gewährleistet, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Gibt es in Baden-Württemberg keinen Platz für die Emys orbicularis?
Doch, sogar fast direkt vor meiner Haustüre: in den Zugwiesen. Das ist ein riesiges und wunderschönes renaturiertes Schutzgebiet am Neckar. Das wäre ein fantastischer Ort für die Europäische Sumpfschildkröte.
Was hindert Sie daran, sie dort anzusiedeln?
Natürlich zunächst die Gesetzeslage. Man kann nicht einfach Tiere in der Natur aussetzen, das ist zu Recht verboten. Die Rahmenbedingungen für eine Auswilderung der Emys orbicularis, auch in Baden-Württemberg, müssen geprüft werden. Aber aus meiner Sicht könnte die Federführung in den Zugwiesen etwa sehr gut der hiesige Naturschutzbund übernehmen.
Wäre das ein großer Aufwand?
Nein, keineswegs! Man kann die Schildkröten weitgehend sich selbst überlassen. Sie hätten genug zu fressen und wären geschützt, und Nisthügel gäbe es ebenfalls. Und für die Spaziergänger, ach, für die wäre das auch so fantastisch.
Inwiefern?
Es ist einfach eine Freude, die Tiere zu beobachten. Ich sitze im Sommer oft nur auf meinem Bänkle im Garten und gucke, was die Schildkröten gerade treiben. Letztes Jahr habe ich ein erwachsenes Tier beobachtet, wie es an Land ging und sich blitzschnell eine riesige rote Wegschnecke schnappte. Die hat es dann im Teich gefressen. Man muss wissen, die Emys kann nur unter Wasser schlucken. Ich habe auch schon gesehen, wie eine Schildkröte eine Wespe frisst. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber sie hat das gefährliche Insekt kurz und knackig mit ihren Kieferleisten halbiert. Und wissen Sie, was auch toll ist?
Was?
Sie müssten mal sehen, wenn die Schildkröten auf Wanderschaft gehen. Das tun sie, wenn sie legereif sind. Dann spazieren die Weibchen manchmal zwei, drei Kilometer in der Natur umher und suchen Nistplätze. Ein Nistplatz ist meist ein nach Süden ausgerichteter Hang mit einem lockeren Boden. Mit ihren Hinterbeinen buddeln die Tiere einen circa acht Zentimeter tiefen Schacht und legen zwischen sieben und zwölf Eier in das Nest. Dann scharren sie es zu. Dazu versetzen sie ihr Aushubmaterial mit einer Flüssigkeit aus den Analsäcken, die den Deckel über dem Nest besonders stabil hält.
Waren Sie schon mal dabei, als eine Schildkröte geschlüpft ist?
Ja! Und ich sage Ihnen: das ist ein Erlebnis. Zu einem solchen Termin kommen immer wieder Schulkinder. Die sind jedes Mal ganz begeistert. In meinem Inkubator knacken die ersten Tiere ihr Ei nach 56 Bruttagen. Am 57. Tag kommt der eine Arm raus, am 58. der zweite, und dann krabbeln die Tiere raus. Toll!
Wie, Ihre Schildkröten schlüpfen gar nicht in der freien Natur?
Ich hatte immer das Pech, dass die Embryonen nicht ganz reif geworden sind. Deshalb bin ich dazu übergegangen, die Gelege vorsichtig auszugraben und die Eier zu Hause in meinen Brutkasten zu legen. Ganz risikofrei ist das jedoch auch nicht. Es kam schon vor, dass ich ein Gelege beschädigte. Letztes Jahr aber – bezeichnenderweise in dem Jahr, als die Europäische Sumpfschildkröte das Reptil des Jahres war – hatte ich Glück. Da sind sechs Jungtiere im Garten geschlüpft. Dabei hatte ich zuerst das Schlimmste befürchtet.
Wieso das denn?
An jenem Augusttag war ich noch vor Sonnenaufgang im Garten, um nach dem Nest mit den Eiern zu schauen. Die Jungtiere konnten jederzeit schlüpfen. Auf einmal tauchte ein Käfer auf, der begann über dem Nest zu kreisen. Als ich sah, dass es ich um den Nicrophorus vespillo handelte, da wurde mir ganz anders: der Totengräber! Dieser Käfer riecht Aas schon von Weitem. Wenn der also hier war, dann musste das ein untrügliches Signal dafür sein, dass die kleinen Schildkröten alle tot und verwest sind. Das war eine ganz schlimme Vorstellung. Ich überlegte, was ich tun sollte, und entschied mich schließlich dafür, das Nest zu öffnen. Weiteres Warten hätte ich nicht ausgehalten. Und tatsächlich bin ich sofort auf ein kaputtes Ei gestoßen. Dann allerdings erlebte ich eine riesige Überraschung: Statt auf weitere faule Eier stieß ich auf sechs wunderschöne erdverkrustete Schildkröten, die sich sofort auf den Weg zum Wasser gemacht haben. Die Wildlinge waren alle lebensfähig und sogar größer und schwerer als meine Emys aus dem Brutkasten. Das fand ich sehr erstaunlich.
Warum sollten die Wildlinge mickriger sein?
Wir hatten im vergangenen Jahr so extreme Wetterverhältnisse. Es gab Tage, da knallte die Sonne mit 43 Grad auf das Nest. Und an anderen Tagen prasselten unglaubliche Regenmassen drauf. Im Brutkasten sind die Bedingungen viel gemäßigter. Aber man kann ja am Ergebnis im Garten sehr gut sehen: die Emys orbicularis ist ein robustes Tier.
Wie alt wird eine Emys orbicularis?
Zwischen 60 und 80 Jahre.
Ihre Schildkröten werden Sie also überleben.
Das muss man so sagen. Und ich weiß, dass ich in den nächsten Jahren kürzertreten muss, das geht nicht anders. Ich werde wohl zwei Tiere behalten und sich selbst überlassen. Da wird sich ein biologisches Gleichgewicht einstellen.
Und was passiert mit den anderen Tieren?
Die werde ich in das Auswilderungsprojekt nach Hessen geben. Oder vielleicht tut sich etwas in den Zugwiesen. Das wäre mein Traum.