Karin Schneider aus Renningen kann seit acht Jahre ihre Wohnung nicht mehr verlassen: Teil vier der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Renningen - Karin Schneider, 76, kann seit acht Jahren nicht mehr das Haus verlassen: Ihr Gleichgewichtssinn ist schwer gestört. Die Renningerin hat uns geschrieben, weil sie darüber sprechen will, warum sie trotz großer Einschränkungen nicht die Lebensfreude verliert.
Frau Schneider, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich wurde hier in Renningen vor 76 Jahren geboren und wuchs in diesem alten Haus auf. Seit meiner Kindheit bin ich chronisch krank, schon in der Volksschule lief mir oft Eiter aus meinem rechten Ohr. Ich konnte nicht am Turnunterricht teilnehmen, nicht Radfahren, auf Bäume klettern oder einen Purzelbaum machen. 1958 habe ich geheiratet. Kurz darauf fing es an, dass ich scheinbar grundlos immer wieder umfiel. Mein Hausarzt schickte mich ins Stuttgarter Katharinenhospital. Dort wurde festgestellt, dass ich im rechten Ohr Geschwüre habe, sogenannte Cholesteatome. Mit Anfang 20 wurde ich erstmals operiert. Meine Beschwerden ließen aber nicht nach. Ich konnte meine beiden Kinder niemals auf den Spielplatz oder ins Schwimmbad begleiten. Das machte mir damals sehr zu schaffen. Als mein Sohn erwachsen war, schrieb er mir: „Ich hatte die schönste Kindheit, die man sich vorstellen kann, weil meine Mutter immer zu Hause und für mich da war.“ Das hat mich sehr gefreut.
Wie ging es mit Ihren Ohrenproblemen weiter?
1983 wurde eine Radikalhöhle gelegt, das bedeutet, dass alles ausgeräumt wurde, was mit dem rechten Ohr in Verbindung steht. Die Operation dauerte 14 Stunden, insgesamt war ich 17 Wochen im Krankenhaus. Der Professor sagte damals zu mir: „Sie werden ab sofort kein normales Leben mehr führen können.“
Behielt der Mediziner recht?
Ja. Ich höre seither auf der rechten Seite nichts mehr, und mein Gleichgewichtssinn ist schwer gestört. Es darf sich in meiner Umgebung nichts bewegen, sonst dreht sich in meinem Kopf alles. Immerhin konnte ich noch 18 Jahre lang im Leonberger Eine-Welt-Laden aushelfen. Mein Mann fuhr mich auf seinem Arbeitsweg zum Bosch in den Laden, und meine Tochter, die auf dem Amtsgericht schafft, brachte mich nachmittags wieder heim. Ich saß in dem Laden an der Kasse, etwas anderes hätte ich nicht tun können. Manche Kunden haben mich gefragt, ob ich zu faul sei, sie zu bedienen. Sie verstanden nicht, dass mich meine Beine zwar bis nach Moskau tragen könnten, aber mein Kopf keine drei Schritte mitmacht. Meine Gleichgewichtsstörungen haben mit der Zeit zugenommen. Seit acht Jahren sind sie so stark, dass ich meine Wohnung nicht mehr verlassen kann.
Sie leben wie in einem Käfig.
So könnte man es ausdrücken. Anfangs musste ich mich an dieses Nesthocker-Dasein gewöhnen. Mein Mann musste zum Schaffen, mein Sohn und meine Tochter waren in der Ausbildung. Es war mir klar, dass ich von morgens bis abends alleine klarkommen muss. Zum Zeitvertreib fing ich damit an, Kinderlieder aufzuschreiben und diese Büchlein zu verschenken. Ich begann auch, Zitate und Sprichwörter zu sammeln. Und irgendwann kam ich auf die Idee, alte, einsame oder behinderte Menschen anzurufen und ihnen Lieder vorzusingen: „Kein schöner Land“, „Muss i denn zum Städtele hinaus“ oder „Heile, heile Gänsje“. Es gibt einen schwer dementen Mann auf der Alb, dessen Frau sagt, dass er sich nicht mehr rege. Nur wenn ich morgens anrufe und sage „Hallo Hans, hier ist die Karin“ und lossinge, dann macht er die Augen auf und räuspert sich. Seine Frau sagt: „Das ist der einzige Moment am Tag, wo ich merke, dass er noch lebt.“ Zurzeit erledige ich zwischen fünf und zehn Uhr morgens mehr als hundert solcher Anrufe.
Hört sich anstrengend an.
Das ist anstrengend, aber auch bereichernd für mich. Ich kann nicht mehr in die Welt hinaus, deshalb hole ich die Welt zu mir. In Renningen wissen die Leute, dass meine Tür stets offen steht. Ich sage jedem: „Du kannst kommen, wann du willst, ich bin ja immer da.“ Regelmäßig bekomme ich Besuch, und zwar nicht nur von Alten, die von ihren Krankheiten berichten, sondern auch von Jungen, die mir erklären, wie ihr Smartphone funktioniert und wofür Facebook gut sein soll.
Was suchen die Menschen bei Ihnen?
Ich verfüge über etwas, was den meisten heutzutage fehlt: Zeit. Viele kommen, weil sie mich trösten wollen, und merken dann, dass ich es bin, der sie tröstet. Ich helfe, indem ich zuhöre.