In Mannheim bemüht man sich, Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien eine neue Heimat zu geben. Die Stadt hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Mannheim - I

 

hre neue Existenz verwahrt Zhenya Manolova in Plastiktüten. Die Briefe vom Finanzamt kommen in die Kaufhof-Tüte, die Schreiben von der L-Bank und der Krankenversicherung in die Tüte vom Drogeriemarkt. Pässe und Urkunden gehören in den Gefrierbeutel. Für Sonstiges gibt es einen Extrabeutel. Die junge Bulgarin kann die Unterlagen sortieren, aber nicht lesen. Sie stopft die kleinen Tüten in eine große und macht sich auf ins Gemeinschaftszentrum Jungbusch.

Die 21-jährige Frau ist eine von ungefähr 6000 Bulgaren und Rumänen, die sich seit dem EU-Beitritt der beiden Länder in Mannheim niedergelassen haben. Vor dem Beitritt im Jahr 2007 kamen aus diesen Ländern durchschnittlich 60 Einwanderer pro Jahr in die Stadt, nun treffen 200 Menschen im Monat ein. Die allermeisten, so stellt die Stadtverwaltung fest, „kennzeichnet eine existenzielle Armutssituation“. Auch andere Großstädte wie Duisburg, Berlin oder Hamburg werden von den Zuwanderern aufgesucht. In Baden-Württemberg ist Mannheim die Stadt der Hoffnung.

Nicht alle sind darüber erfreut. Am stärksten empört sich die NPD Rhein-Neckar. Die Zuwanderer wollten doch nur Sozialhilfe in Millionenhöhe abgreifen, außerdem würden in Mannheim immer mehr Kriminelle mit osteuropäischem Aussehen ihr Unwesen treiben, schreibt die rechtsextreme Partei auf ihrer Internetseite. Aber auch Zeitungen wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sehen eine „Gefahr für den sozialen Frieden“ und zeichnen ein bedrohliches Szenario mit eingeschleppten „multiresistenten Tuberkulose-Infektionen“, bevorstehenden Brandkatastrophen, explodierenden Sozialausgaben und unzähligen wilden Müllkippen.

Die Stadt soll durch Zuwanderung gewinnen

Die Stadt Mannheim hat dazu eine andere Haltung, wie in ihren Grundsätzen zur Integration zu lesen ist: „Mannheim gewinnt durch seine Zuwanderung. Das durch die Zugewanderten mitgebrachte soziale und kulturelle Kapital, die Sprachenvielfalt und die unternehmerische Leistungsbereitschaft bereichern die Stadt und stärken unsere Zukunftsfähigkeit.“ Speziell für die südosteuropäischen Zuwanderer hat sie im vergangenen Dezember einen Fonds in Höhe von 300 000 Euro eingerichtet, aus dem Projekte zur Integration finanziert werden.

Es sind vor allem zwei Stadtviertel, die von den Bussen aus Südosteuropa angesteuert werden: die Neckarstadt West und der Jungbusch. Das Hafenviertel – früher auch Pestbuckel genannt, weil hier Seuchenopfer begraben wurden – verwandelt sich derzeit vom verruchten Rotlichtbezirk in ein In-Viertel mit Cafés und Restaurants, in denen Studenten und Existenzgründer vor ihren Laptops sitzen. Doch viele der Häuser, die noch aus der Gründerzeit stammen, sind baufällig. In ihnen verbringen die Neuankömmlinge zusammengepfercht und für teures Geld die ersten Nächte. Eine Matratze kostet monatlich bis zu 200 Euro. Auch für Arbeit wird gesorgt – für Schwerstarbeit, vergütet mit zwei Euro pro Stunde. Etwas mehr kann man auf dem sogenannten „Hafenstrich“ verdienen, wo von 5 Uhr morgens an die Männer ihre Arbeitskraft anbieten. Jeder Zweite geht mit leeren Händen wieder nach Hause.

Im Jungbusch landen vor allem Bulgaren. Sie kommen fast alle aus den Städten Veliko Tarnovo und Dobrich, vermutlich, weil die dortigen Schlepperorganisationen gute Kontakte zu Geschäftspartnern im Jungbusch pflegen. Auch die Familie Manolova wollte aus Veliko Tarnova weg, „weil es dort nichts zu tun gibt“, sagt Zhenya Manolova, die gerne als Friseurin arbeiten würde. Wie die Familie ihren Weg in den Jungbusch fand, soll nicht genauer geschildert werden. Es sei anfangs nicht leicht gewesen, deutet Zhenya Manolovy nur an. Mittlerweile lebt die vierköpfige Familie mit den Schwiegereltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Ihre Schulden seien überschaubar.

Nicht die Fehler von früher machen

Mit dem Jungbusch als Wohnsitz hat die Familie keine schlechte Wahl getroffen. Das Quartier, von den Behörden auch „Arrival City“ genannt, hat jahrzehntelange Erfahrung mit Zuwanderern. „In den siebziger Jahren kamen die Türken, in den neunziger Jahren die Flüchtlinge aus dem Irak und dem Iran, nun sind es die Bulgaren“, sagt Michael Scheuermann, der Leiter des Gemeinschaftszentrums Jungbusch. Das Zentrum wurde bereits 1986 ins Leben gerufen, um das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen zu verbessern. Als vor wenigen Jahren die ersten bulgarischen Einwanderer im Stadtteil aufkreuzten, handelte das Zentrum rasch und schuf eine „Informations- und Anlaufstelle für südosteuropäische Zuwanderer“. „Schnelles Handeln ist wesentlich“, sagt Scheuermann. Warte man zu lange ab, gerieten die Neuankömmlinge zunehmend in die Abhängigkeit zwielichtiger Personenkreise. Außerdem verfestigten sich Parallelstrukturen, so Scheuermann. „Wir wollen nicht die gleichen Fehler machen wie mit den türkischen Gastarbeitern in den siebziger Jahren.“

Die Informations- und Anlaufstelle für südosteuropäische Zuwanderer wird von Marija Krstanovic betreut. Die 30-jährige Bosnierin musste sich vor zwanzig Jahren ebenfalls in Deutschland neu zurechtfinden. Da Bosnisch wie Bulgarisch zu den slawischen Sprachen gehört, hat sie sich die bulgarische Sprache rasch aneignen können. Zhenya Manolova öffnet ihre Plastiktüten und schiebt der vertrauten Mitarbeiterin die Unterlagen zu. Es ist wie immer verzwickt: Die L-Bank verlangt Unterlagen von der Krankenkasse, sonst zahlt sie kein Elterngeld. Die Kasse benötigt ihrerseits Unterlagen zum Gewerbe des Mannes, die nicht ohne Weiteres zu beschaffen sind und so weiter. Während Marija Krstanovic noch die Kontoauszüge übersetzt, wartet einen Stuhl weiter geduldig die nächste Besucherin. Draußen im Flur klopft ein älteres bulgarisches Ehepaar an die Tür. Es kommt unangemeldet. „Verzeihen Sie. Es ist dringend“, erklärt es sich.

Vertrauen muss erst erarbeitet werden

Dass sich viele Familien finanzielle Unterstützung vom Staat erhoffen und dabei in den Mühlen der Bürokratie stecken bleiben, findet Michael Scheuermann nicht gar so schlimm. Wesentlich sei doch, dass die Bulgaren überhaupt ins Gemeinschaftszentrum kommen, sagt er. „Die Menschen kennen aus ihrer Heimat nur bestechliche Beamte. Sie sind es nicht gewohnt, einer Behörde Vertrauen entgegenzubringen.“

Das Vertrauen mussten sich die Mitarbeiter mühsam erarbeiten. Den Wendepunkt markierte das Stadtteilfest im Sommer 2012. „Damals lag Spannung in der Luft“, erinnert sich Scheuermann. Die Einheimischen – vor allem Türken und Italiener – fühlten sich von den neuen Nachbarn bedroht. Sie fürchteten um ihre selbst mühsam aufgebaute Existenz. Es kam zu ersten Zusammenstößen auf der Straße. Die Stimmung kippte. Scheuermann trommelte alle Schlüsselakteure des Stadtteils zusammen: den Pfarrer, die Schulleiter, Vereinsvorsitzende. Jahrzehntelang hatten sie daran gearbeitet, der Öffentlichkeit zu beweisen, dass eine multikulturelle Gesellschaft funktionieren kann. „Diese Arbeit sollte nicht wegen ein paar weiterer Zuwanderer umsonst gewesen sein.“

Zum bevorstehenden Stadtteilfest luden sie eine bekannte bulgarische Musikgruppe ein, die 40 Minuten spielte. Dann stiegen sie selbst auf die Bühne. Hüsyin Yörük, ein türkischer Student, übersetzte. (Die große Mehrheit der Bulgaren im Jungbusch versteht Türkisch, da sie Angehörige türkischer Minderheiten sind.) Scheuermann erinnerte die Einheimischen an ihre eigene Einwanderungsgeschichte, an die Not, die einen dazu treibt, die Heimat zu verlassen. Er appellierte im Gegenzug an die Zuwanderer, sich nicht abzuschotten, sondern am Leben im Stadtteil teilzunehmen. „Bringt eure Kinder in meine Schule“, forderte die Grundschulleiterin Verena Wittemer. Auch der Übersetzer Hüsyin Yörük richtete mehrmals das Wort an die Zuhörer und erzählte von seinem Großvater, der vor 40 Jahren das Gleiche durchgemacht habe wie heute die Bulgaren.

Auch heute noch gibt es Skepsis

Das Eis war gebrochen. In den Wochen nach dem Fest veranstaltete das Gemeinschaftszentrum wöchentlich Straßengespräche am Spielplatz. Auf Bierbankgarnituren diskutierten Politiker und Polizisten mit den Bewohnern über Müllvermeidung, über Respekt, über Regeln des Zusammenlebens in einer Stadt. Man beschloss, gemeinsam den Jungbusch auf Vordermann zu bringen. Einen Tag lang reinigten sie die Straßen und feierten am Abend ein Grillfest. „Immer waren die Bulgaren dabei“, sagt Scheuermann. Diese Wochen hätten viel in den Köpfen der Leute bewegt.

Natürlich seien immer noch viele Einheimische voller Skepsis, räumt Michael Scheuermann ein. „Die ruinieren unser Viertel, die sollte man alle nach Hause schicken“, schimpft ein albanischer Unternehmer, während er im Backshop an der Hafenstraße einen Kaffee trinkt. Die türkische Inhaberin widerspricht ihm: „Aber das sind doch fleißige Leute. Ich sehe doch, wie sie jeden Morgen vor meiner Tür auf Arbeit warten. Und nie hat einer sein Frühstück nicht bezahlt.“ Der Albaner schüttelt unwillig seinen Kopf. Aber er wagt keine Widerrede, als wäre er sich seiner Sache eben doch nicht ganz sicher.

Natürlich stimme auch, dass manche Türken mit den Zuwanderern unfaire Geschäfte machten, sagt Scheuermann. Wahr sei aber auch, dass gerade unter den ausländischen Mitbürgern einige mit den Zugezogenen mitfühlten – und helfen wollten. Wie die Türkin Aysel Taylan, die in diesen Tagen ein Infocafé für Migrantinnen eröffnet. Wie Hüsyin Yörük, der mit den Teenagern vom Jungbusch Projekte macht. Wie Marija Krstanovic, die in ihrer Freizeit bulgarischen Frauen Deutsch beibringt. Wie Sadi Kalkan, der Kindern und Jugendlichen Fußballtraining gibt.

Die Steuernummer fehlt noch

Und wenn es noch enger wird? Wenn Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum mit aufgenommen werden und vom kommenden Jahr an auch für diese Länder die uneingeschränkte Arbeitnehmer-Freizügigkeit gilt? „Wir machen das Beste daraus“, sagt Scheuermann, der sich als Pragmatiker bezeichnet. Für Diskussionen über die richtige EU-Politik habe er ohnehin keine Zeit. Eine Aussage, die ihm am Herzen liegt, will er aber doch machen: „Deutschland ist ein Einwanderungsland! Das haben leider noch viele nicht begriffen.“

Marija Krstanovic ist froh, wenn die Arbeitnehmer-Freizügigkeit endlich in Kraft tritt. Es hat lange gedauert, bis sie für Zhenya Manolovas Mann, der im Abrissgewerbe arbeiten möchte, alle wichtigen Papiere für die Gewerbeanmeldung beisammenhatte. Doch wieder zieht ihre Klientin ein Schreiben vom Finanzamt aus der Tüte. Krstanovic seufzt: „Was noch fehlt, ist die Steuernummer.“

Am Ende der Sprechstunde schiebt Zhenya Manolova alle Belege wieder in ihre Tüten. Zum Abschied fragt sie Marija Krstanovic, ob sie ihr zum Dank die Wohnung sauber machen darf.