Erika und Max Mustermann oder der „common man“: Vor Wahlen lebt der kleine Mann als Adressat oft wieder auf. Zur schwierigen Geschichte einer schweigenden Gruppe.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Als der kleine Mann in der Öffentlichkeit zum letzten Mal richtig Konjunktur hatte, war er eine Frau: Susanne Neumann aus Gelsenkirchen. Neumann, Jahrgang 1959, hatte ihre Mittlere Reife bestanden und angefangen, Dekorateurin zu lernen, als sie mit siebzehn schwanger wurde. Sie bekam das Kind, bekam noch eins, zog die Kinder groß und ging für andere Leute putzen.

 

Als die Gewerkschafterin die harte Arbeit jahrelang getan hatte, erkrankte sie an Krebs und schrieb mit einem Co-Autor ein Buch. Es hieß: „Frau Neumann haut auf den Putz – Warum wir ein Leben lang arbeiten und trotzdem verarmen“. Damit saß sie im Jahr 2016 auf dem Podium bei Anne Will im ARD-Fernsehen, wo die meisten um sie herum zwar eine Zugehfrau beschäftigten, sich aber bis zu diesem Zeitpunkt kaum gefragt hatten, wie es der wohl gehe, finanziell und im Kopf. Susanne Neumann sagte es ihnen: miserabel.

Daraufhin kamen Einladungen von der Linken und der SPD; Hannelore Kraft persönlich brachte einen Mitgliedsantrag vorbei. Schließlich saß Susanne Neumann wieder auf dem Podium, direkt beim so genannten Gerechtigkeitskongress der Sozialdemokraten im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Das war noch unter Sigmar Gabriel, der Neumann beipflichtete, als sie sagte, die SPD tue zu wenig für die kleinen Leute. Auch ihm selbst sei die eigene Partei zu akademisch, meinte der damalige Parteichef.

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Wenig später war Gabriel Außenminister und fast nur noch in der weiten Welt unterwegs. Er hat es jetzt meist mit großen Männern zu tun, denen man im Umgang mit einer anderen Sprache kommen muss als den Krankenschwestern, Alleinerziehenden, Putzfrauen, Handlangern und Minijobbern daheim, den kleinen Leuten.

Die Schwierigkeit mit dem Begriff vom viel zitierten, manchmal tot gesagten, dann wieder vor allem vor Wahlen sehr lebendigen und wichtigen kleinen Mann ist, dass es sich dabei nicht um eine soziologisch eindeutig fassbare Kategorie handelt, sondern um eine rhetorische Figur. Klassische Parteien nützen sie gerne, um deutlich zu machen, dass sie den „common man“, wie die Engländer sagen, den gemeinen Menschen – gerne auch: den Mann auf der Straße – , nicht vergessen hätten. Dass sie sich also um alle und alles kümmerten.

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Tatsächlich jedoch wissen sie – da die klassischen Milieus sich immer mehr auflösen – mitunter gar nicht mehr ganz genau, wo der kleine Mann sich aufhält, wie er sortiert ist und wohin er sich orientiert. Die AfD, gegründet und organisiert zumeist von Großbürgern, Mittelständlern und Akademikern, versucht derweil zumindest die Ressentimentgeladenen und Frustrierten abzuholen. Teilweise gelingt das. Es gelingt auch deshalb, weil die etablierten Parteien, deren Personal manchmal der Wirklichkeit bereits ein Stück entrückt ist, sich gerne mit einer weiteren Phrase zufrieden geben. Sie verstehen sich dann noch als „Schutzmacht“ (Gabriel), ohne eine zu sein.

Der kleine Mann ist eine rhetorische Figur

Historisch Karriere gemacht hat der kleine Mann gewissermaßen als Nebenspross der kleinen Leute, von denen schon in mittelalterlichen Stichwörtersammlungen die Rede ist, im Übrigen ohne Unterton. Was klein war, war klein, was groß war, groß. Gottgewollt, wie man noch dachte. Das Grimmsche Wörterbuch findet den kleinen Mann zum ersten Mal ausgerechnet in einer Farce des Großbürgersohns Johann Wolfgang von Goethe wieder. Im Prolog des Schwanks „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“. Wo die „Eitelkeit der Welt“ verhandelt wird, wirkt der kleine Mann, weil sein Leben gleichermaßen endlich ist wie das der Kleriker, Fürsten und Päpste, förmlich gleichberechtigt. Goethe rät: „Drum treib’s ein jeder wie er kann; /Ein kleiner Mann ist auch ein Mann./Der Hoh‘ stolziert, der Kleine lacht, /So hat’s ein jeder wohl gemacht.“

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Der Bürger und Demokrat Ludwig Uhland, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche, sah auf den kleinen Mann noch andere, ernsthafte Aufgaben zukommen – und nicht nur Jokus: „Ein kleiner Mann, ein großes Pferd/ein kurzer Arm, ein langes Schwert,/muss eins dem anderen helfen.“ Von solchen Forderungen wollte der deutsche Michel, in dem viel vom kleinen Mann steckt, nach 1848 nicht mehr viel wissen. Mochten die avancierten Bürgerlichen Politik machen, um sich in der Enttäuschung in die Biedermeierecke zurück zu ziehen. Er wollte sich, wenn es gut ging und der Kampf gegen den Hunger halbwegs gewonnen war, lieber raushalten: „Ich zog aufs Land, pflanzt meinen Kohl; /Erst ward mir’s schwül, doch später wohl.“ Stille Geschäftigkeit.

Eine von Enttäuschung grundierte Mentalität

Nach dem Ersten Weltkrieg hingegen und inmitten einer Zeit allgemeiner Enthemmung waren solche Rückzugsmodelle nur noch bedingt tauglich, und es entwickelte sich, damals schon, im Kleinbürgertum eine von genereller Enttäuschung grundierte Mentalität, die Johannes Pinneberg in Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ so formulierte: „Mit uns kleinen Leuten“, sagt Pinneberg, „machen sie, was sie wollen“. Eine Redefigur, die sich bis heute gehalten hat. Anders als Erich Kästner, ein Kleinbürger, der es trotz späterem Publikationsverbot 1931 längst gesellschaftlich nach oben geschafft hatte (und, für seine Verhältnisse herablassend, schrieb: „Und wenn wer seine Peitsche zückt,/dann ruft der kleine Mann gebückt:/,Nicht fünfzig, sondern hundert!‘“), steckt Fallada in derselben existenziellen Krise wie sein Protagonist, dem seitens des deutschen Bürgertums allenfalls Verachtung entgegenschlägt. Das Bürgertum paktierte mit den Nazis, die ihrerseits am kleinen Mann lediglich in seiner zukünftigen Funktion als Volksgenosse interessiert waren. Gerade, als er dachte, er sei auf einmal groß geworden, musste der kleine Mann das Morden und das Töten, also die Drecksarbeit übernehmen, was er anfangs größtenteils wild begeistert tat. Geschichtlich seine schwärzeste Stunde.

Der kleine Mann, der am Ende war

Pinneberg, der für die Nazis zu klug und für die KPD nicht gläubig genug ist, muss man sich vor allem deswegen merken, weil er die „große Wut“ anspricht, die auch heute wieder viele umtreibt. Es ist die Wut, „alles in den Klump zu schlagen“. Pinneberg ist sich immerhin bewusst, dass dies nichts lösen würde. Sein Weg endet, unfreiwillig, in der Laubenpieperkolonie. Auf der Berliner Friedrichstraße, die er sich längst nicht mehr leisten kann, ist er unerwünscht. Er stört die schöne Dekoration.

Pinneberg, wie Fallada ihn beschrieb, war der kleine Mann, der am Ende war. Es gab aber auch den fiktiven Charakter des repräsentativen kleinen Mannes. Diese Rolle war im öffentlichen Bewusstsein, wie der Biograf Torsten Körner einmal genau gezeigt hat, mit dem Schauspieler Heinz Rühmann besetzt. Er gab, fast bruchlos vor und nach dem Krieg den kleinen Mann als Stehaufmännchen, das half Ängste zu bannen, relative Zuversicht zu verbreiten und die „Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaft in ein schlichteres Weltbild zu übersetzen“. Rühmanns Männer, vielleicht auch, weil sie so männlich nicht waren, blieben – trotz versteckter Aggressionen, die sie als kleine verbale Frechheiten kanalisieren konnten – „Anpassungskünstler“.

Der kleine Mann zieht heute einen Trennungsstrich nach unten

Diese Rolle, das Besetzen von Nischen, hatte für einen Denker wie Hans Magnus Enzensberger etwas Anziehendes, folglich relativierte er die Standarddenunziation der 68er-Generation – „Du Kleinbürger!“ – 1976 im „Kursbuch“. Enzensberger verband mit dem kleinen Mann nichts Statisches, Verhocktes, Restfaschistisches, sondern sah ihn – zugespitzt formuliert, wie es seine Art war – als eine Art Chamäleon: „Niemand sei fähig, „seine Ideologien, Verkehrsformen und Gewohnheiten rascher zu ändern“ als er. Somit gehöre der kleine Mann – auch dies wieder eine typisch Enzensbergersche Übertreibung – zur „experimentellen Klasse par excellence“. Und das sollten dieselben Leute sein, denen die einschlägige marxistische Kritik Gesichtslosigkeit vorgehalten hatte und einen fehlenden Klassenstandpunkt?

Die Lust des Intellektuellen Enzensberger an der genüsslichen Provokation ignorierte, dass – die Geschichte spielt direkt nach der Ölkrise – der kleine Mann, nunmehr ein Überbleibsel aus der Konkursmasse der Arbeiterschaft, sich seinerzeit schon auf dem ziemlich direkten Weg befand in die wieder entstehende Service-Gesellschaft. Was vor einigen Jahrzehnten schlicht verschwunden schien, nämlich das Dienstbotenwesen, ist weltweit massiv zurückgekehrt. Global gesehen ist jede dreizehnte Lohnempfängerin eine Hausangestellte und auch in Deutschland, wo der offizielle Anteil der Hausarbeit am Lohnganzen gerade mal bei 0,5% Prozent liegt (die Dunkelziffer wird wohl deutlich höher sein), ist das Dienstbotengeschäft ein teils illegal funktionierender Markt, den sich Migranten und Deutsche an der Prekariatsgrenze mehr schlecht als recht untereinander aufteilen. Auf diesem Niveau versammelt sich ein sozialer Sprengsatz: von den Eliten und „denen da oben“ weiter entfernt denn je, zieht der kleine Mann, wenn er sich an Wahlen überhaupt noch beteiligt, deswegen oft einen Trennungsstrich nach unten. Das Wenige, was er vom Kuchen überhaupt abbekommen kann, will er nicht auch noch teilen. Lange vor Donald Trump hat der österreichische Präsidentschaftskandidat von der FPÖ, Norbert Hofer, mit der Vorwegnahme von dessen Spruch, „Österreicher(er) zuerst“, fast neunzig Prozent jener Arbeiterschaft hinter sich gebracht, die noch vor einigen Jahren, ohne groß hinzuschauen, die SPÖ gewählt hätte. Für Frankreich hat Didier Eribon in „Rückkehr nach Reims“ zur selben Zeit beschrieben, wie es ist, wenn eine ehemals kommunistisch orientierte Familie komplett ins Le-Pen-Lager überläuft.

Man vergisst oft den kleinen Mann

In seiner „Rede an den kleinen Mann“, die der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, persönlich sehr verbittert, nach dem Krieg schrieb, machte er dem kleinen Mann den Vorwurf, dass er Machthaber „Macht für den kleinen Mann“ beanspruchen ließe, aber selber stumm bleibe. Dieses Stummsein ist die stärkste Waffe des kleinen Mannes. Anders als der Wutbürger, der seinem Ärger Luft macht, explodiert er nicht, wenn er nicht Susanne Neumann heißt. Er ist nicht zu orten und schafft, inmitten einer Gesellschaft der Lauten, im Stillen. „Vergeben und vergessen sei die Rache des kleinen Mannes“, mutmaßte Friedrich Schiller, Sohn kleiner Leute. Gut möglich, dass er da irrte. Der kleine Mann vergisst nicht. Aber man vergisst oft den kleinen Mann.