Im südlichen Stuttgarter Wahlkreis ist die Spannung besonders groß. Der Grund: der vor vier Jahren knapp unterlegene Grünen-Chef Cem Özdemir will dem CDU-Platzhirsch Stefan Kaufmann das Direktmandat abjagen.

Stuttgart - Wie schon bei der Bundestagswahl vor vier Jahren wird der Ausgang der Abstimmung im südlichen Stuttgarter Wahlkreis mit besonderer Spannung erwartet. Und das hat seinen Grund: Mit dem Bundesvorsitzenden der Grünen, Cem Özdemir, will dort ein prominenter Bundespolitiker dem bisherigen Platzhirsch Stefan Kaufmann (CDU) das Direktmandat abjagen und ihn damit aus dem Bundestag kegeln.

 

Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Grünen mit der SPD in der Landeshauptstadt einen Pakt geschlossen. Sozialdemokraten sollen demnach im Wahlkreis I Özdemir die Erststimme geben, im Gegenzug machen sich die Grünen im anderen Stuttgarter Wahlkreis dafür stark, dem dortigen SPD-Bewerber die Erststimme zu geben.

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Die Dritte im Reigen der aussichtsreichen Kandidaten, die frühere SPD-Landesvorsitzende Ute Vogt, die wie Özdemir über die Landesliste ihrer Partei abgesichert ist und den Wiedereinzug in den Bundestag so gut wie sicher hat, peilt nun ein gutes Zweitstimmenergebnis für ihre Partei an. Gleiches gilt für die Liberale Judith Skudelny – die auf der Landesliste ebenfalls weit vorn platzierte Abgeordnete wurde von der Stuttgarter FDP aus dem Wahlkreis Nürtingen entlehnt, um endlich wieder einen FDP-Vertreter aus der Landeshauptstadt im Bundestag platzieren zu können. Hinzu kommt Christina Frank, die für die Linke antritt, aber nicht unbedingt nach einem Mandat in Berlin strebt.

Vor vier Jahren lag CDU-Mann Stefan Kaufmann knapp vorn

Bei der Wahl vor vier Jahren war die Ausgangskonstellation ähnlich. Der damalige CDU-Newcomer Kaufmann lag am Ende bei den Erststimmen 4,5 Prozentpunkten vor Özdemir. Sein Ergebnis von 34,4 Prozent war zugleich das niedrigste Erststimmenresultat der CDU in diesem Wahlkreis seit 1980. Özdemir, damals von seiner Partei nicht auf der Liste abgesichert, erzielte zwar mit 29,9 Prozent das bisher beste Ergebnis eines Grünen-Bewerbers in einem Stuttgarter Wahlkreis, verfehlte aber den Einzug in den Bundestag. Ute Vogt wurde mit 18 Prozent deutlich auf den dritten Platz verwiesen – der Erststimmenanteil der SPD halbierte sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2005. Über die Landesliste ihrer Partei zog sie dennoch in den Bundestag ein. Linke und FDP verfehlten dieses Ziel dagegen, obwohl den Liberalen damals Bemerkenswertes gelang: Bei den Zweitstimmen lag die Partei mit 19,5 Prozent auf Rang drei hinter der CDU (27,9 Prozent) und den Grünen (22 Prozent); die Sozialdemokraten gingen mit 18,9 Prozent nur noch als viertstärkste politische Kraft im Stuttgarter Süden durchs Ziel. Die Linke kam auf 6,7 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag 2009 im Wahlkreis I übrigens bei 77,3 Prozent.

Dieses Mal geht es für den CDU-Kandidaten und Kreisvorsitzenden der Partei Stefan Kaufmann um mehr als nur um seine Wiederwahl. Die Partei hat unter seiner Ägide den OB-Sessel im Stuttgarter Rathaus an die Grünen verloren, was ihm innerparteilich viel Kritik eingetragen hat. Den Kreisvorsitz konnte er – auch mangels personeller Alternativen – behaupten. Sollte Kaufmann das Direktmandat für die CDU verlieren und sein Mandat einbüßen, könnte er sich als Parteichef kaum halten.

Auch für Özdemir steht viel auf dem Spiel, obwohl er als Spitzenkandidat im Land in jedem Fall den Sprung in den Bundestag schaffen dürfte. Gelingt es ihm trotz der Erststimmenkooperation mit der SPD wieder nicht, den CDU-Rivalen zu überflügeln, wäre das für seine Karriere ein Dämpfer.

Kandidat der S-21-Gegner könnte Zünglein an der Waage sein

Im Wahlkreis 258, wie er offiziell heißt, leben nach Angaben des Statistischen Amts der Stadt rund 157 000 Wahlberechtigte. Auffällig ist der überdurchschnittlich hohen Anteil an bürgerlichen, akademisch gebildeten Einwohnern. Auch der Anteil der älteren Wähler über 65 Jahre liegt mit knapp 24 Prozent relativ hoch. Das Gebiet umfasst die Bezirke Mitte, Nord, Süd, West, sowie Birkach, Degerloch, Möhringen, Plieningen, Sillenbuch, Vaihingen und Hedelfingen. Außer den genannten Bewerbern treten zudem Christian Thomae (Piraten), der frühere FDP-Mann Ronald Geiger (Alternative für Deutschland), Gerhard Hammitsch (Freie Wähler), Ronnie Hellriegel (Nationaldemokratische Partei Deutschlands), Dieter Bauer (Ökologisch-Demokratische Partei), Hubertus Mohs (Bürgerrechtsbewegung Solidarität) sowie die Einzelbewerber Hans-Jürgen Gäbel und Werner Ressdorf an.

Eine Stuttgarter Besonderheit ist, dass auch die Gegner des umstrittenen Bahnprojekts S 21 mit eigenen Bewerbern bei der Bundestagswahl antreten und um Erststimmen werben. Im südlichen Wahlkreis geht für sie Frank Schweizer ins Rennen. Die Projektkritiker wollen erreichen, dass das Thema, das von den etablierten Parteien im Wahlkampf weitgehend ignoriert wurde, am Kochen gehalten wird. Sie zielen auf von den Grünen enttäuschte Protestwähler ab. Bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen könnte das Özdemir den Sieg kosten.

Stefan Kaufmann – Der Titelverteidiger

Der 44-jährige Jurist hat 2009 politisch einen großen Sprung gemacht – aus dem Sillenbucher Bezirksbeirat in den Bundestag nach Berlin. In seiner ersten Legislaturperiode als Abgeordneter arbeitete er dort als Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Außerdem ist er stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, wo er sich für das Bahnprojekt Stuttgart 21 eingesetzt hat.

Stefan Kaufmann ist katholisch. Der offen homosexuell Lebende hat sich innerhalb der Unionsfraktion für die Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften im Einkommenssteuerrecht stark gemacht. Seit 2011 amtiert er auch als Kreischef der CDU. In dieser Funktion hat er parteiinterne Kritik auf sich gezogen, als er den parteilosen Unternehmer Sebastian Turner als OB-Kandidaten auf den Schild hob. Der unterlag am Ende dem heutigen OB Fritz Kuhn (Grüne).

Ute Vogt – Die Unbeugsame

Die 48-jährige Rechtsanwältin hat schon viele Karrierestationen hinter sich. Sie war zwei Mal Spitzenkandidatin der SPD bei Landtagswahlen und Chefin der Landtagsfraktion, zehn Jahre Landesvorsitzende der Partei und Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium. Ganz nach oben hat es Vogt nie geschafft, obwohl sie einst von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Führungsreserve der Partei gezählt wurde. Von 1994 bis 2005 vertrat sie den Wahlkreis Pforzheim im Bundestag, seit 2009 vertritt sie den Stuttgarter Wahlkreis in Berlin. Auch Vogt gilt als Befürworterin des Bahnprojekts S 21.

Im Bundestag ist Vogt Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Atomendlager Gorleben sowie im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ihr Wiedereinzug in den Bundestag gilt dank Platz sechs auf der Landesliste als gesichert, das Direktmandat haben Vogt und die SPD abgeschrieben.

Judith Skudelny – Die Ausgeliehene

Die 37-jährige Anwältin wurde im Jahr 2009 im Wahlkreis Nürtingen erstmals für die Liberalen in den Bundestag gewählt. Rechtzeitig vor der Wahl 2013 besann man sich beim Stuttgarter Kreisverband der Liberalen auf der Suche nach einem Kandidaten für den Wahlkreis I auf die Abgeordnete, die zudem auch als Stadträtin im Leinfelden-Echterdinger Gemeinderat sitzt.

In Absprache mit dem Kreisverband Esslingen wechselte die gebürtige Stuttgarterin als Kandidatin in den südlichen Wahlkreis der Landeshauptstadt. Der gilt gemeinhin als Stimmenhochburg der Liberalen. Im Bundestag ist sie als Mitglied im Rechtsausschuss sowie im Ausschuss für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit. Auch Skudelny ist von den Vorteilen von Stuttgart 21 überzeugt. Das politische Steckenpferd der Abgeordneten, die auch privat ab und an aufs Ross sitzt, ist die Energiepolitik. So fordert sie etwa eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes.

Dem Özdemir – Der Herausforderer

Der 47-jährige gebürtige Uracher mit türkischen Wurzeln ist neben Claudia Roth amtierender Bundesvorsitzender der Grünen. 1998 zog er über die Landesliste seiner Partei erstmals in den Bundestag ein. Im Gefolge der sogenannten Bonusmeilen-Affäre trat er 2002 als innenpolitischer Sprecher der Fraktion zurück; obwohl er bei der kurz darauffolgenden Bundestagswahl wieder gewählt wurde, nahm er das Mandat nicht an.

Nach einer Auszeit vom Politikbetrieb und einem Zwischenspiel im Europäischen Parlament wurde er 2008 erstmals zum Parteivorsitzenden gewählt und seither zwei Mal im Amt bestätigt. Er gilt als Kritiker des Bahnprojekts S 21. Trotz seiner kritischen Haltung zur türkischen Regierung und seines Engagements für türkische Minderheiten hat er sich stets für den EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen. Seine innenpolitischen Schwerpunkte sind Finanz-, Bildungs- und Energiepolitik.

Christina Frank – Die Newcomerin

Die 58-jährige Gewerkschaftssekretärin hat im Süden die Nachfolge von Marta Aparicio als Kandidatin angetreten, die es diesmal im nördlichen Wahlkreis Stuttgart II probiert. Frank, ursprünglich Sozialdemokratin, trat wegen der Agenda 2010 des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder aus der SPD aus und wechselte 2009 zur Linken. Von 1996 bis 2000 war sie stellvertretende Landesvorsitzende der damaligen ÖTV (heute Verdi) und zuständig für Jugend, Gesundheit, Rechtsschutz und Personal.

Frank hat sich in ihrem jetzigen Tätigkeitsbereich bei Verdi unter anderem für bessere Arbeitsbedingungen in den Schlecker-Drogeriemärkten eingesetzt. Als das Unternehmen 2012 pleite ging, unterstützte sie die arbeitslosen Schlecker-Frauen bei der Suche nach einem neuen Job. Franks besonderes Interesse gilt der Frage der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das Bahnprojekt S 21 ist für sie ein großer Verschiebebahnhof für Steuergelder.