Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ruft die grün-rote Koalition zur Geschlossenheit auf. Sein Vorgänger Günther Oettinger sieht den Trend zu Gunsten der Grünen gebrochen.

Stuttgart - Cem Özdemir muss es geahnt haben, als er am Sonntagvormittag in Stuttgart in den Flieger nach Berlin steigt. Blass wirkt er, der Grünen-Bundesvorsitzende, nicht nur die Farbe fehlt im Gesicht, auch die Zuversicht ist in diesen Stunden irgendwo anders, nur nicht bei Özdemir, der doch in der Landeshauptstadt das Direktmandat holen will und in der Bundeshauptstadt … – na ja, von Rot-Grün ist ja schon lange keine Rede mehr, die Umfragen geben es nicht her. Aber wenigstens nicht schlechter Abschneiden als vor vier Jahre, das ist die Marke, die sich die Grünen gesetzt haben. 10,7 Prozent waren es 2009. Das ist die Schmerzgrenze. Es sind noch acht Stunden bis zur Prognose. Dann werde sich die „Mundwinkelfrage“ entscheiden, sagt Özdemir.

 

Reinhard Bütikofer sitzt in der Landesvertretung in Berlin. Die Mundwinkel des Europaabgeordneten und Grünen-Strategen zeigen entschieden nach unten. Die Zahlen, die noch vor Schließung der Wahllokale von den Demoskopen in die Parteizentralen gelangten, verheißen nichts Gutes. Schlimmer noch. Sie versprechen Schmerz. Tiefen Schmerz. Von einem „bitteren Rückschlag“, spricht Bütikofer, als bald darauf der SWR aus der Landesvertretung die Prognose verbreitet, erst für den Bund, dann für Baden-Württemberg. Bütikofer sagt „lebhafte Debatten“ beim Länderrat am kommenden Wochenende voraus. Mit einem „Weiter so“ könne man auf diese Klatsche jedenfalls nicht reagieren.

Bei den Grünen ist es düster, bei den Freidemokraten zappenduster. Michael Theurer, auch er Europaabgeordneter und früher einmal im Südwesten Fast-Wirtschaftsminister und Fast-Landesvorsitzender, fordert einen personellen und programmatischen Neuanfang. So, wie er das sagt, klingt es nach rauchenden Colts. „Die FDP wird in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr gehört“, fügt er hinzu. Günther Oettinger, der EU-Kommissar und frühere CDU-Ministerpräsident, will zu diesem Zeitpunkt die FDP noch nicht ganz aufgeben. Aber je weiter der Abend fortschreitet, desto unwahrscheinlich erscheint ein Verbleib der Liberalen im Bundestag. Bei einem Scheitern der FDP, sagt Oettinger, werde die SPD bei der Regierungsbildung eine Rolle spielen. Peter Friedrich (SPD), der grün-rote Statthalter in Berlin, kontert: „Mich drängt es nicht in eine große Koalition.“ Der Preis werde jedenfalls hoch sein.

Kretschmann: „Da ist etwas verrutscht in der Programmatik“

Endlich erscheint der Ministerpräsident. Auf die Frage, was der Wahlausgang für das Land bedeute, antwortet Winfried Kretschmann mit einem Wort: „Nichts.“ Seine Enttäuschung aber sei groß. „Wir müssen uns fragen, ob wir uns richtig aufgestellt haben.“ In den Mittelpunkt des Wahlkampfs hätten die Energiewende und die ökologische Modernisierung gehört, sagt er, kein bunter Strauß von Steuererhöhungen und auch keine Verbotsdebatten zur Esskultur. „Da ist etwas verrutscht in der Programmatik.“ Der Wahlkampf habe gezeigt: „Wenn man regieren möchte, dann braucht es eine Politik von Maß und Mitte.“ Und dann richtet er noch einen dringenden Appell an die eigene Koalition in Stuttgart. „Wir müssen das Fingerhakeln beenden, ein geschlossenes Auftreten ist fortan unabdingbar.“ Günther Oettinger sagt: „Der Trend für die Grünen ist gebrochen.“

Im Stuttgarter Abgeordnetenhaus ist Winfried Mack schon vor 18 Uhr allerbester Laune. Immer wieder gibt der CDU-Vizelandeschef seinen Spruch des Tages zum Besten: „Auch aus dem schönsten Grün wird einmal Heu.“ Als um 18 Uhr dann die erste Prognose für Baden-Württemberg kam, strahlt Mack übers ganze Gesicht: 47 Prozent der Zweitstimmen für die CDU, nur gut zehn Prozent für die im Südwesten regierenden Grünen – besser hätte es aus Sicht der Christdemokraten kaum kommen können.

„Sensationell“ nennt Fraktionschef Peter Hauk denn auch das Abschneiden seiner Partei. Im Land bekomme die CDU damit „den Rückenwind, den wir in den nächsten zweieinhalb Jahren brauchen“. Beinahe „bayerische Verhältnisse“ im liberal geprägten Baden-Württemberg – das mache Mut für die Landtagswahl 2016. Entsprechend euphorisch ist die Stimmung in den Räumen der Landtags-CDU. Nur vereinzelt waren mahnende Stimmen zu hören, dass man aber auch nicht übermütig werden dürfe.

Schmid betont, dass es eine bundespolitische Entscheidung sei

Katzenjammer herrscht bei den Südwest-Grünen, die schon in den vergangenen Wochen einen Dämpfer befürchtet hatten. Dass er so deutlich ausfallen würde, hat indes kaum jemand erwartet. „Inhalte und Stil des Wahlkampfs“ seien gerade in Baden-Württemberg nicht gut angekommen, analysiert die Fraktionschefin Edith Sitzmann. Mit der Wirtschaft etwa pflege die Grünen-geführte Landesregierung einen anderen Umgang, als es in den Steuerplänen der Bundespartei zum Ausdruck kam. „Wir haben verstanden“, sagt Sitzmann.

Auf eine solche Debatte ist der SPD-Landeschef Nils Schmid offensichtlich überhaupt nicht erpicht. Immer wieder betont er, man habe es mit einer bundespolitischen Entscheidung zu tun; auf das Land habe diese „keine Auswirkungen“. Sein frühes Eintreten für Peer Steinbrück als Spitzenkandidaten verteidigt Schmid: Er sei „der Richtige“ gewesen, doch der Merkel-Bonus habe einfach alles überlagert.

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke bemüht sich erst gar nicht, das Ergebnis schönzureden. Natürlich handele es sich um „die größte Niederlage“ in der Geschichte der Liberalen.

Die Ereignisse der Bundestagswahl können Sie hier nachlesen.