Im Kampf um zwei Direktmandate wollen sich SPD und Grüne überraschenderweise gegenseitig unterstützen. Doch die Zusammenarbeit ist höchst umstritten.

Stuttgart - Eigentlich ist für die Machtfrage bei einer Bundestagswahl die Zweitstimme von Bedeutung. Mit ihr entscheiden die Wähler, welche Parteien im Parlament die Mehrheit und somit den Kanzler stellen. In Stuttgart jedoch ist ein regelrechter Erststimmenwahlkampf entbrannt, seit Grüne und SPD gegenseitige Wahlempfehlungen für die aussichtsreichen Kandidaten der jeweils anderen Partei ausgesprochen haben.

 

Dabei hatte sich das vor wenigen Tagen noch ganz anders angehört. Per E-Mail an die Genossen hatte die SPD-Kandidatin im Wahlkreis Stuttgart I, Ute Vogt, eine Empfehlung für den Grünen-Bewerber Cem Özdemir noch strikt dementiert: „Wir machen keine Erststimmen-Kampagne für andere.“ Am Dienstag folgte die Rolle rückwärts: Die über die Liste abgesicherte frühere Landesvorsitzende gibt sich mit der Zweitstimme für ihre Partei zufrieden und bereitet so dem politischen Konkurrenten Özdemir den Boden. Der ebenfalls über die Landesliste abgesicherte Grünen-Parteichef setzt alles daran, dem CDU-Abgeordneten Stefan Kaufmann das Direktmandat wegzuschnappen, der nun ebenfalls offensiv um Erststimmen wirbt. Die Grünen-Anhänger im Wahlkreis II werden dagegen aufgefordert, ihre Erststimmen nicht Birgitt Bender zu geben, sondern sie Nicolas Schäfstoß zu überlassen. Dem SPD-Neuling werden aber nur geringe Aussichten bescheinigt, am 22. September vor der Abgeordneten Karin Maag (CDU) zu landen. Auch die beiden Netzwerk-Kandidaten aus dem Stuttgart-21-Gegnerlager, Frank Schweizer und Carola Eckstein, bemühen sich um die Erststimmen der Wähler.

Während die Kreisvorsitzenden von Grünen und SPD die landesweit bisher einmalige Kooperation beim Kampf um die Erststimmen als Erfolg feiern, setzt sie vor allem altgedientem Genossen schwer zu. Von einer „katastrophalen Fehleinschätzung“ ist die Rede und davon, dass Ute Vogt, die von Altbundeskanzler Gerhard Schröder einst zur Führungsreserve der SPD gezählt wurde, jetzt jede Glaubwürdigkeit verloren habe. Die SPD habe das Terrain für Özdemir preisgegeben, ohne dafür eine reelle Gegenleistung zu erhalten. „Das ist kein Geschäft auf Augenhöhe“, schimpft ein langjähriger Stuttgarter Sozialdemokrat. Der Frust an der Parteibasis sei riesig.

Vor einem halben Jahr noch Absage auf Landesebene

Andere führende Genossen stellen dagegen die Frage, inwieweit die Wähler einem solchen Aufruf der Kreisvorsitzenden Folge leisten werden. „Das wird weder den Grünen noch der SPD viel nutzen“, so der weit verbreitete Tenor. Wieder andere aus der SPD erinnern daran, dass auch schon SPD-Kandidaten von Empfehlungen der Grünen zur Erststimme profitiert hätten – etwa die SPD-Abgeordnete im Wahlkreis Stuttgart II, Ute Kumpf, die bei ihrer ersten Kandidatur zum Bundestag im Jahr 1998 gleich das Direktmandat errang und es danach zwei Mal verteidigte. „Erststimme Kumpf – Zweitstimme grün“, konnte man damals auf den Wahlplakaten der Ökopartei lesen.

Dass es nun zehn Tage vor der Wahl zu einer rot-grünen Zusammenarbeit im Kampf um die Direktmandate kommt, ist umso erstaunlicher, als dass die Führungsspitzen beider Parteien auf Landesebene einer solche Leihstimmenkampagne noch vor einem halben Jahr eine kategorische Absage erteilt hatten. Hintergrund ist eine Reform des Wahlrechts vom Februar 2013, die vom Bundestag mit den Stimmen von CDU, FDP, SPD und Grünen beschlossen wurde. Sie besagt, dass jetzt alle Sitze einer Partei, die mehr Direktmandate gewinnt als ihr eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden, in vollem Umfang ausgeglichen werden müssen. Für jedes CDU-Überhangmandat gibt es ein Ausgleichsmandat für die Konkurrenz.

Ute Vogt versteht dagegen die Aufregung nicht: „Ich gebe doch keine Wahlempfehlung für Cem Özdemir ab. Ich werbe nur nicht offensiv um Erststimmen.“