Die Gerichte nehmen Kinder allzu leichtfertig aus ihren Familien. Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt am Beispiel eines Asylbewerbers erneut kritisiert.

Karlsruhe - Ein Vater kann darauf hoffen, dass er sein Kind, das ihm von den Behörden weggenommen worden war, zurückbekommt. Das Bundesverfassungsgericht hat erneut eine Gerichtsentscheidung aufgehoben, mit denen den Eltern das Sorgerecht entzogen worden war.

 

Bereits in den vergangenen Monaten hatte das Verfassungsgericht in mehreren ähnlichen Fällen ebenso entschieden. Die Verfassungsrichter betonen das Elternrecht und sagen, „dass der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung nicht an die Stelle der elterlichen Vorstellungen stellen darf“. Ein Kind dürfe seinen Eltern nur weggenommen werden, wenn deren Fehlverhalten massiv sei und das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes „nachhaltig“ gefährdet sei.

Scharfe Kritik an Gutachterin

Die Verfassungsrichter üben ungewöhnlich massive Kritik an einer Gutachterin am Amtsgericht Paderboren und am Oberlandesgericht Hamm. Der Vater war Asylbewerber und wird im Augenblick in der Bundesrepublik geduldet. Die Mutter ist psychisch schwer krank und nach Überzeugung aller Beteiligten zu einer Erziehung des Kindes nicht fähig. Der Mann hat sich noch während der Schwangerschaft von ihr getrennt und lebt jetzt mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen. Allerdings hat er sich auch nach der Trennung und der Geburt des Kindes noch intensiv um die frühere Partnerin gekümmert.

Das Jugendamt beantragte noch vor der Geburt der Tochter im Februar 2013, beiden Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Das Kind wurde aus dem Krankenhaus in eine Pflegefamilie gebracht. Der Vater klagte darauf hin und wollte das alleinige Sorgerecht für seine Tochter haben. Dies wurde ihm sowohl vom Amtsgericht Paderborn als auch von Oberlandesgericht Hamm verweigert. Beide Gerichte stützten sich dabei ohne jede kritische Nachfrage auf das Gutachten einer Sachverständigen. Dieses Gutachten wiederum ist nach Überzeugung der Verfassungsrichter grob fehlerhaft und voller Vorurteile.

So billigt die Gutachterin den Eltern eine „Erziehungseignung“ nur zu, wenn sie ihren Kindern vermittelten und vorlebten, „dass es sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und ein Selbstwertgefühl entwickeln zu können“. Außerdem müssten Eltern ihren Kindern ein „adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben“. Dazu erklären die Verfassungsrichter, für eine Kindeswohlgefährdung reiche es nicht, „wenn die Haltung und Lebensführung der Eltern von einem bestimmten, von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht“. Eltern müssten ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv unter Beweis stellen. Vielmehr müsse für einen Kindesentzug ein „gravierend schädigendes Erziehungsversagen“ vorliegen.

Gerichte übernahmen Gutachten kritiklos

Die Gutachterin attestierte dem Vater darüber hinaus Defizite „im Hinblick auf die Rechts- und Werteordnung unseres Staates“ und begründete dies damit, dass er Asyl beantragt habe, obwohl er aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland eingereist sei. Sie wirft ihm des Weiteren vor, dass er bei seiner neuen Partnerin und nicht im Übergangswohnheim wohnt, und unterstellt ihm, er wolle mit dem Erziehungsrecht lediglich ein Bleiberecht in Deutschland erlangen.

Die Gutachterin informierte die neue Partnerin auch darüber, dass der Mann seine ehemalige, damals obdachlose Freundin noch eine Zeit lang bei sich hatte wohnen lassen und unterstützt hatte. Obwohl die neue Partnerin dazu sagte, dies spreche doch eher für diesen Mann, schrieb die Gutachterin, die neue Beziehung beruhe nicht „auf einer wahrhaften Basis“. Die Verfassungsrichter machen deutlich, dass sie das Gutachten insoweit durch Vorurteilen belastet sehen. Im Übrigen könne aus einer Einstellung zum Rechtssystem keine Gefahr für das Wohl eines damals sieben Monate alten Babys abgeleitet werden. Die Verfassungsrichter kritisieren, dass die Gerichte das Gutachten kritiklos übernommen haben. Die Entscheidung des Amtsgerichts sei ungewöhnlich knapp, die Begründung des Oberlandesgerichts umfasse nur 16 Zeilen. (Aktenzeichen: 1 BvR 1178/14)

Die Serie der Karlsruher Entscheidungen, mit denen der Entzug des Sorgerechts in mehreren Fällen für verfassungswidrig erklärt worden ist, fällt in eine Zeit, da immer mehr Kinder von den Jugendämtern aus ihren Familien genommen werden. 2013 geschah dies mehr als 6500-mal. Das rigidere Vorgehen der Ämter wiederum ist die Reaktion auf einzelne dramatische Fälle, in denen Kinder elendig starben, weil sie von ihren Eltern vernachlässigt oder gequält worden waren.