Die Caritas betreibt die Lesbar in der neuen Bibliothek, die Mitarbeiter freuen sich über den Andrang.

Stuttgart - Im achten Stock der neuen Bibliothek stehen Alexandra Arnold, Karin Baumeister und Markus Trump hinter dem Tresen der Lesbar, gießen Cappuccinos ein und laden Muffins auf Teller. Sechs Beschäftigte des Cafés sind behindert. Karin Baumeister kann es passieren, dass sie die Bestellung eines Gastes in der nächsten Sekunde wieder vergessen hat. Und Alexandra Arnold muss immer aufs Neue fragen, wie sie die Speisekarten auf den weißen Tischen aufstellen soll. Alle Behinderte in der Lesbar haben ihre Eigenheiten, trotzdem schaffen sie es mit Hilfe ihrer drei Anleiter jeden Tag, 400 bis 500 Leute freundlich zu bedienen. Die Bibliothekschefin Ingrid Bußmann ist begeistert: „Wir haben vor dem Bau der neuen Bibliothek eine Library in Seattle besichtigt, die ihr Café als soziales Projekt betrieben hat. Die Idee habe ich mitgenommen.“ Ein soziales Projekt passe sehr gut zu einer Bibliothek als einem Ort des Lernens und der Bildung.

 

Nur ein kleingedrucktes Caritaslogo

Daniela Marx, die Chefin der Lesbar, will kein Mitleid: „Wir wollen keinen Behindertenbonus, wir brauchen zufriedene Gäste.“ Dass die Lesbar eine Einrichtung der Caritas ist, wird deshalb auch nur für die Gäste sichtbar, die es sehen wollen. Das Caritas-Logo findet sich vergleichsweise klein gedruckt auf der Speisekarte, das war es dann auch. Der Blick der meisten Gäste aus dem rundum verglasten Café dürfte ohnehin eher auf die imposanten Bücherregale in den sieben Stockwerken darunter fallen – oder auf der anderen Seite hinaus auf die Silhouette Stuttgarts.

„Schön ist es hier oben“, sagt Karin Baumeister, für die es jeden Tag aufs Neue ein Abenteuer ist, von ihrem Wohnort Münster zu ihrem Arbeitsplatz am Mailänder Platz zu finden. Die 27-Jährige hat kein Kurzzeitgedächtnis und praktisch keinen Orientierungssinn. Deshalb trägt sie immer ein kleines Heft bei sich, das die Stationen ihres täglichen Weges zur Arbeit zeigt. „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, schau ich mir die Fotos an.“ Die Bilder hat ihre Chefin Daniela Marx gemacht, von ihr stammen auch die Anweisungen an der Schranktür über der Arbeitsfläche in der Küche der Lesbar: erst das Brötchen teilen, dann Butter draufstreichen, dann den Käse verteilen, danach erst die Gurkenscheiben einlegen. Für Karin Baumeister und ihre Kollegen sind die Handlungsanweisungen am Schrank ein notwendiges Gerüst, um unfallfrei durch den Arbeitstag zu kommen. Genauso wichtig sind die Fotografien von den Tischen, die zeigen, wo die Speisekarten und der Zuckerstreuer aufgestellt werden müssen. Bei Bedarf bekommen die Behinderten am Morgen auch die wiederholte Einführung in die Bedienung des Kaffeeautomaten. „Wir führen einen normalen Betrieb mit Selbstbedienung, nur sind die Aufgaben ein wenig anders verteilt“, sagt die Caféleiterin, die ihren Meister im Hotel- und Gaststättenbereich gemacht hat. Anders verteilt heißt: jeder bekommt nur eine einzelne Aufgabe zugewiesen, damit niemand überfordert wird und keiner vergisst, was er machen sollte. „Die Gäste sollen nichts merken“, so Marx.

Café-Betreiber kämpfen mit Eigenheiten des Gebäudes

Ihre Eigenheiten haben freilich nicht nur die Behinderten, eigenwillig sind auch die Vorgaben des koreanischen Architekten Eun Young Yi . Geht es nach dessen Vorstellungen, müssten die Tische leer bleiben, auch Regale hinterm Tresen seien nicht vorgesehen gewesen, erzählt Marx. „Wir haben klargemacht, dass wir ohne Abstellflächen kein Café führen können.“ Und auf den Tischen liegen inzwischen kleine Tischsets, die nur dann weggeräumt werden, wenn offizielle Fotos gemacht werden. Zu schaffen macht den Leuten der Lesbar auch die bei der Planung vergessene Spülküche. Deshalb wird seit der Eröffnung alles in Pappbechern und auf Papptellern serviert, täglich landen 500 bis 600 Becher im Müll. Inzwischen liegt die Genehmigung für den Einbau vor, im Januar soll nachgerüstet werden. Rar sind auch Lagerflächen. „In den ersten Tagen, als die Menschen Schlange standen, musste ich zweimal am Tag einkaufen fahren, weil wir keinen Stauraum haben.“

Alexandra Arnold macht sich über Lagerflächen und Spülküchen keine Gedanken, sie freut sich, in der Lesbar zu arbeiten, in die weit mehr Gäste kommen als ins Bohnencafé im Leonhardsviertel, das die Caritas zuvor betrieben hat. „Im Bohnencafé habe ich mich gelangweilt, hier ist richtig was los“, erzählt die sehbehinderte 28-Jährige, die an ihrer neuen Arbeitsstätte aufblüht. Auch ihr Kollege Markus Trump ist froh um die Abwechslung, obwohl ihm die vielen Besucher manchmal auch zu schaffen machen: „Wenn jemand zu viele verschiedene Kaffees bestellt, verlier ich schon mal den Faden. Aber die Leute bleiben freundlich.“ Der 40-Jährige hat sich einen Bibliotheksausweis geholt, weil er seinen nächsten freien Tag bei den Büchern verbringen will. Für den Caritas-Sprecher Friedemann Müns-Österle ist das neue Domizil ein Quantensprung: „Jetzt sind wir mit unserer Außenstelle der Neckartalwerkstätten mitten im öffentlichen Leben und nicht mehr in einer Nische.“