Der Lehrer Manfred Hammerle unterrichtet seit 14 Jahren Schausteller- und Zirkuskinder. Aus Erfahrung weiß der Pädagoge genau, mit welchen Schwierigkeiten die Kinder beruflich Reisender zu kämpfen haben.

Stuttgart - Mit hoch konzentriertem Blick sitzt der elfjährige Timmy vor seinem Laptop und grübelt. Eben hat er einen Satz auf Englisch formuliert, doch der Computer weist ihn auf einen Fehler hin. Was hat er bloß falsch geschrieben? „Überleg mal, Timmy, wie muss der Satz denn lauten?“, fragt ihn sein Lehrer Manfred Hammerle mit sanfter Stimme. Timmy denkt nach – und weiß plötzlich wieder, wie das Verb „to do“ richtig konjugiert wird. Der Computer stellt die nächste Frage.

 

Durch die Tür des Wohnwagens, der Timmy und Manfred Hammerle an diesem Tag als Klassenzimmer dient, sind die gedämpften Geräusche von Karussells, Wurfbuden und Partymusik zu hören. Doch davon lassen sich die beiden nicht stören. Sie sind die Geräuschkulisse gewöhnt. Denn als Schaustellerkind lebt Timmy mit seinen Eltern während des Frühlings- und Volksfestes in einem Wohnwagen auf dem Cannstatter Wasen. Und seit seiner Einschulung wird er zur Wasenzeit am Nachmittag von Manfred Hammerle unterrichtet.

Hammerle ist vier Tage die Woche auf dem Wasen

Bereits seit 14 Jahren betreut Hammerle im Auftrag des Kultusministeriums die Kinder von beruflich Reisenden – und damit vor allem Schausteller- und Zirkuskinder – in der Region Nordwürttemberg. An vier Tagen pro Woche besucht der 61-jährige Lehrer aus Oppenweiler (Rems-Murr-Kreis) derzeit seine Schüler auf dem Cannstatter Wasen. Jedes Jahr unterrichtet er dort 20 bis 30 Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse einzeln oder in Gruppen. Zwar gehen die Kinder alle am Vormittag in eine reguläre Schule. Hammerle hilft ihnen jedoch am Nachmittag dabei, den Lernstoff nachzubereiten und vorhandene Wissenslücken zu schließen – vorwiegend in Mathematik, Deutsch und Englisch.

„Die Kinder bekommen individuelle Lernpläne von ihrer Stammschule, die sie normalerweise besuchen“, erklärt Hammerle. „Daraus geht hervor, was die Kinder lernen müssen. Und in Absprache mit ihren Lehrern unterrichte ich sie entsprechend.“ Etwa 15 Kinder betreut der 61-jährige Pädagoge auch während des Winters – dann an deren Stammschulen. Mit dem elfjährigen Timmy lernt er jedoch nur während der Wasenzeit. Denn Timmy lebt normalerweise in Bayern und damit außerhalb von Hammerles Zuständigkeitsbereich.

Ein Zirkuskind besucht bis zu 30 Schulen pro Jahr

Die schulische Förderung, meint der Lehrer, sei für die Kinder beruflich Reisender besonders wichtig. Schließlich besuche beispielsweise ein Zirkuskind bis zu 30 verschiedene Schulen pro Schuljahr. „Da müssen sich die Kinder nicht nur auf neue Lehrpläne, sondern auch auf neue Mitschüler, Lehrer und Umgebungen einstellen. Das ist nicht immer so einfach.“

So häufig muss Timmy sich zwar nicht umgewöhnen. Denn er wechselt lediglich zwischen seiner Realschule im mittelfränkischen Wassertrüdingen und – während der Wasenzeit – der Brunnen-Realschule in Bad Cannstatt, wo er sich einen Freundeskreis aufgebaut hat. Trotzdem ist der Sechstklässler froh, von Manfred Hammerle Unterstützung zu bekommen. „Herr Hammerle weiß sehr viel, von ihm lerne ich immer neue Sachen“, sagt Timmy. „Außerdem kann ich ihn viel fragen, auch über andere Fächer.“

Der Elfjährige will eines Tages Steuerberater werden

Für Timmy ist das Lernen eine wichtige Voraussetzung für den späteren Beruf. Schließlich will der Elfjährige eines Tages Steuerberater werden – anders als seine Eltern, die ein Kinderkarussell betreiben. Dieser Berufswunsch unterscheidet Timmy von vielen anderen Schaustellerkindern, die lieber das Geschäft der Eltern übernehmen wollen. „Viele haben ja quasi schon ihr eigenes Geschäft und legen deshalb nicht so viel Wert auf Schulabschlüsse“, meint Manfred Hammerle. „Aber bei Timmy könnte ich mir vorstellen, dass er später vielleicht ein Technisches Gymnasium besucht.“

Für den Lehrer ist seine Arbeit mit den Schaustellerkindern etwas ganz Besonderes. Denn auch wenn es rund um die Wohnwagen oft laut und die Lernumgebung nicht unbedingt ideal ist, hat die Arbeit auf dem Festplatz für ihn ihren ganz eigenen Charme. „Ich kann hier viel individueller auf die Kinder eingehen. Außerdem finde ich die Welt der Schausteller und Zirkusleute spannend“, sagt Hammerle. „Deshalb habe ich es nie bereut, diese Aufgabe übernommen zu haben.“