Nina Haun ist für die Besetzung vieler großer deutscher Filmproduktionen mitverantwortlich, etwa „Vier Minuten“ von Chris Kraus und Maren Ades Oscar-nominierte Tragikomödie „Toni Erdmann“. Im Gespräch erklärt sie ihr Handwerk.

Berlin/Ludwigsburg - Vom Theater kam sie an die Ludwigsburger Filmakademie, heute ist Nina Haun für die Besetzung vieler großer deutscher Filmproduktionen mitverantwortlich. Sie hat für „Vier Minuten“ von Chris Kraus das richtige Schauspielergespann gefunden und zuletzt für Maren Ades Oscar-nominierte Tragikomödie „Toni Erdmann“. Im Gespräch erklärt sie, wie sie das macht.

 
Frau Haun, worauf kommt es an, wenn man einen Film richtig besetzen will?
Das hat neben einer umfassenden Kenntnis der Schauspielerszene und Erfahrung viel mit Gespür und Intuition zu tun. Ich lese ein Drehbuch und frage mich: Welche Figur will man erzählen und welcher Schauspieler kann das? Ich kenne viele Schauspieler und ich kann Ensembles denken – es passt ja nicht jeder zu jedem. Ich kann übrigens sehr hartnäckig sein, wenn ich einen Schauspieler unbedingt möchte, bin aber nie persönlich beleidigt, wenn dieser nein sagt. Eine kreative Leistung braucht einen Impuls, etwas, woran der Schauspieler andocken kann. Wenn das nicht da ist, hat das einen Grund. Den möchte ich dann erfahren, um etwas über den Schauspieler dazuzulernen.
Haben Sie es selbst schon einmal selbst vor der Kamera versucht?
Ich kann es gar nicht, das hat mir schon Frieder Nögge immer gesagt damals an unserem Theater in Backnang. Aber ich kann erkennen, wer es kann. Ich versuche immer, den Menschen hinter dem Schauspieler mitzudenken. Ich habe eine sehr gute Vorstellung davon, wie sie Figuren anlegen und was im Zusammenspiel mit anderen passiert.
Ist Schauspieler sein besonders schwierig?
Ich finde schon. Bei TV-Produktionen gehen sie oft direkt ans Set und müssen auf Knopfdruck performen, weil anders als am Theater nur selten Proben stattfinden. Sie sitzen zuhause und warten, bis jemand anruft. Nach Absagen müssen sie wieder aufstehen, weitermachen. Manchmal haben sie nur einen Drehtag im halben Jahr. Und sie werden permanent bewertet, ihr Aussehen, ihr Spiel. Mein Zugang zu Schauspielern ist aber anders gelagert, ich versuche, sie in ihrem Wesen zu erfassen und zu begreifen. In Castingshows entsteht manchmal ein merkwürdiges Bild, wenn Juroren Prosecco trinken und Daumen heben oder senken. Ich sehe mich als Partnerin der Schauspieler und gehe lange Wege mit ihnen. Es ist wichtig, dass da Vertrauensverhältnisse entstehen, und zwar auf Augenhöhe.
Was gehört zu Ihren Aufgaben?
Ideen für Besetzungen zu erarbeiten und diese zu verargumentieren. Da spielen neben der inhaltlichen Stimmigkeit viele weitere Faktoren eine Rolle: Muss man auf optische Ähnlichkeiten achten? Kann man Reisekosten vermeiden, wenn man Leute vor Ort besetzt? Sind Schauspieler bereit, für einen Betrag X einen Low-Budget-Filmen zu machen? Sind die Leute verfügbar?
Sie haben Filme von Leuten wie Maren Ade oder Chris Kraus besetzt. Wie sehr unterscheiden sich Regisseure?
Die Bandbreite der Inszenierungsstile reicht von total realistisch bis bigger than life. Jeder braucht eine andere Ansprache, auch ein anderes Sicherheitsgefühl. Für Dreharbeiten in diesem Sommer habe ich mit Markus Goller und Oliver Ziegenbalg für deren Film „25 km/h“ Lars Eidinger und Bjarne Mädel als Brüder besetzt, das ging zacko. Andere Regisseure möchten alle gesehen haben, die in Frage kommen. Auch in der weiteren Abstimmung mit den Projektverantwortlichen sieht man: Es gibt starke Persönlichkeiten, die kompromisslos sagen: Ich mach das so, da fährt der Zug drüber. Andere sind elastischer. Das hängt oft auch von den konkreten Produktionsbedingungen ab.
Hat es Sie mit Stolz erfüllt, als Maren Ades „Toni Erdmann“ für den Auslands-Oscar nominiert wurde? Immerhin haben Sie das Vater-Tochter-Traumpaar Sandra Hüller und Peter Simonischek mit ausgesucht.
Es war eher das Glücksgefühl, dabeigewesen sein zu dürfen. Maren erarbeitet das organisch mit den Schauspielern, es hat ein halbes Jahr gedauert, bis die beiden als Paar feststanden. Wir haben sehr verschiedene Inese und Tonis gesehen. Es gibt letztlich immer verschiedene Möglichkeiten, man entscheidet sich. Ich würde gerne mal denselben Film mit zwei Besetzungen sehen, das wäre sicher interessant. Für Peter Simonischek war das eine eher untypische Rolle, er hat ja eine beeindruckende Ausstrahlung, ist ein prominenter Burgschauspieler – Salonlöwe wäre zuviel gesagt. Der musste sich herunterpegeln und diese Kunstfigur Toni Erdmann kreieren, Haare, Brille, Zähne finden. Wir hatten alle diese Gebisse drin und dachten: Wahnsinn! Zugleich mussten wir in der Abgefahrenheit die Glaubwürdigkeit behalten.
Wussten Sie, dass Sandra Hüller so komisch sein kann?
Komödie hat viel mit Timing zu tun, und sie weiß genau, wann sie Pausen setzen muss, wie sie Sachen wegspielen kann. Sie hat da ja auch Texte von großer Ernsthaftigkeit, das oszilliert zwischen Komödie und Drama. Und sie kann eben alles.
Hollywood spannt oft Stars zusammen, zwischen denen keine Chemie entsteht, etwa Brad Pitt und Julia Robert in „The Mexican“. Verzichten die aufs Casting?
Vielleicht reicht es dem Studio schon, zwei so große Namen in einem Film zu haben. Nur gehen die Zuschauer oft nicht mit. Das wird dann eine romantische Komödie, bei der sich aber niemand wünscht, dass die zusammenkommen. Bei jeglicher Form von Paarkonstellationen ist es wichtig, dass beide gut zusammenpassen und sich auf ein anderes Level bringen, so wie zum Beispiel Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung in „Vier Minuten“.
Hannah Herzsprung kam damals aus dem Nichts – wo haben Sie die gefunden?
Wir brauchten eine Klavierschülerin und haben 1500 Mädchen angeschaut. Dann bin ich mit der damals unbekannten Hannah Kaffeetrinken gegangen. Sie hat mir ganz nebenbei erzählt, dass sie Klavier spielt, seit sie drei war. Und im Verlauf unseres Gesprächs kam das ganz starke Gefühl in mir auf, dass sie unsere Hauptdarstellerin sein wird. Ich habe direkt Chris Kraus angerufen, der sich Online etwas von ihr angesehen hat und erstmal sehr ablehnend reagierte. Er war regelrecht enttäuscht von mir. Das war hart. Aber ich habe nicht locker gelassen und Hannah im Alleingang gecastet. Die Aufnahmen haben ihn schließlich überzeugt. Seitdem vertraut er mir fast blind.
Im Abtreibungsdrama „24 Wochen“ haben Sie den Komödianten und „Tatortreiniger“ Bjarne Mädel als Vater besetzt – eine mutige Wahl.
Darüber bin ich wirklich sehr glücklich. Ich habe das Drehbuch gelesen und wusste: Für eine so düstere Geschichte brauchen wir einen, mit dem das Publikum etwas ganz anderes assoziiert, einen Sympathieträger mit Humor wie Bjarne. Der war sofort bereit, da mitzugehen, und hat dem Film eine große Helligkeit und Tiefgründigkeit gegeben in der Art, wie seine Figur mit dem Leben fertig wird.
Sind Sie also eine Entdeckerin?
Es ist schon so, dass ich Leute ins Spiel bringe. Bei Lars Eidinger war das 2009 so in Maren Ades „Alle anderen“, Mark Waschke hatte seinen ersten Auftritt vor der Kamera 2007 in „Mitte 30“ von Stefan Krohmer. Von Entdeckungen möchte ich aber nicht sprechen. Ich hole die ja nicht von der Straße, die haben sich schon selbst entdeckt als Schauspieler. Ich verhelfe ihnen zu der Gelegenheit, sich Regisseure, Redakteuren, Produzenten und dann bestenfalls einem größeren Publikum zeigen zu können. Man braucht immer einen, der an einen glaubt. Das war bei mir nicht anders. Während meiner Zeit als künstlerisch-wissenschaftliche Assistentin an der Ludwigsburger Filmakademie habe ich das dortige Castingbüro geleitet und Studentenfilme besetzt. Nico Hofmann, der dort Regie-Professor ist, gab mir dann die Chance, zur Ufa nach Berlin zu kommen.
Behalten Sie immer den Überblick?
Ich versuche es zumindest. Schauspieler sind ja absolut mein Faible, mein Verantwortungsbereich, inhaltlich und organisatorisch. Ich kenne den kompletten Schauspielnachwuchs, ich gehe an die Schauspielschulen, ins Theater, ins Kino. Ich schaue an, so viel ich kann, und investiere in Leute, die es noch nicht bewiesen haben. Das können Schauspieler sein, die bislang nur in kleinen Rollen zu sehen waren, oder auch Nachwuchsleute. Oft dauert es, bis die Gelegenheit kommt. Jan Krauter habe ich 2008 in Stuttgart gesehen, 2015 bei „Grzimek“ hat es dann geklappt. Ulrich Tukur spielte die Hauptrolle, Krauter den Sohn. Mir ist wichtig, dass man nicht einen Schauspieler nimmt, der selbst schon so bekannt ist, dass jeder weiß, das ist definitiv nicht der Sohn von Ulrich Tukur. Es bleibt immer eine Behauptung, aber der Graben kann größer oder kleiner sein. Jan Krauter spielt übrigens jetzt neben Maximilian Brückner eine Hauptrolle in unserem Lutherfilm „Himmel und Hölle“, der Ende Oktober im ZDF ausgestrahlt wird.
Im Ludwigsburger Diplomfilm „Bis aufs Blut“ haben Sie Simone Thomalla als alleinerziehende Mutter besetzt – ungeschminkt. Wie haben Sie das geschafft?
Fast alle Schauspieler haben Lust, mal etwas anderes zu probieren, das war auch bei Simone so. Oder bei Iris Berben, die in „Es kommt der Tag“ eine ehemalige RAF-Terroristin spielte, die von ihrer Tochter enttarnt wird. Auch das funktionierte nur ungeschminkt, denn sie musste ihrer wahnsinnig jugendlichen Ausstrahlung entgegenarbeiten. Aber man kann nicht alle Rollen gegen den Strich besetzen. Gerade kleine Rollen mit nur ein bis zwei Drehtagen müssen eindeutiger besetzt werden. Für einen Einbrecher beispielsweise gibt es gewisse Klischees. Ein Matthias Brandt funktioniert als Einbrecher nur, wenn seine Figur mit einer komplexeren Geschichte aufgeladen wird. Bei einem klassische Typecast dagegen stellt man sich keine Fragen.
Wie gehen Sie damit um, dass das Publikum oft seine Lieblinge sehen möchte?
Natürlich will man viele Zuschauer, und Publikumslieblinge helfen dabei. Das muss man berücksichtigen. Es wertet ein Projekt auf, wenn ein Star mitspielt, aber es führt dazu, dass man um immer dieselben Schauspieler rangelt. Und wenn Publikumslieblinge spielen, was sie immer spielen, womöglich noch zusammen, habe ich persönlich oft das Gefühl, ich hätte den Film schon gesehen. Ich finde, es kommt wie bei allem auf die richtige Dosierung an.