Eine Ära geht zu Ende: In Berlin knöpft sich Frank Castorf zum Abschied von der Volksbühne den „Faust“ vor – eine harte, sieben Stunden dauernde Sitzung mit und ohne Goethe, die weit nach Mitternacht von eingefleischten Castorfianern bejubelt wird.

Berlin - Ist es nur eine Premiere? Oder ist es vielmehr die entscheidende Schlacht in einem seit mehr als zwei Jahrzehnten wütenden Krieg? In den Berliner Feuilletons jedenfalls verbreitete sich vor Frank Castorfs letzter Arbeit an der Volksbühne das mulmige Gefühl von Soldaten im Schützengraben.

 

Die Fragen lauteten: Wie lange wird das faustische Feuer dauern, in das der Hausherr einen am Rosa-Luxemburg-Platz schickt? Schießt er nur mit Goethes Versen oder auch mit Sartres Prosa? Lässt er einen während des Bombardements auf Stühlen sitzen oder auf dem Boden stehen? Und vor allem: Reichen Semmel und Flachmann als Proviant aus, um diese letzte, unter Aufbietung aller Kräfte organisierte Großoffensive zu überleben? Im Schützengraben war die Unruhe groß, zumal auch die Volksbühne selbst von einem „Mammutprojekt“ gesprochen hat – eine Drohung insofern, als stählerne Vierstundenabende an diesem Theater ohnehin die nicht weiter erwähnenswerte Regel sind. Das Wichtigste also zuerst: Goethes „Faust“ dauert in Berlin sieben Stunden und ist vom Publikum um ein Uhr in der Früh mit starkem, der euphorischen Ermattung abgerungenem Beifall bejubelt worden.

Im „Vorspiel auf dem Theater“ wird gegen Dercon gestichelt

Es ist also wie immer, wenn der schon zu Lebzeiten als Regielegende verehrte Castorf an seiner Volksbühne zuschlägt, aber nur fast. Beim „Faust“ wird die Selbstfeier des Publikums, das sich routiniert für sein Durchhaltevermögen gratuliert, doch übertroffen von den Huldigungen, die dem Ensemble und seinem Meister gelten. Das Publikum weiß: Eine Ära geht zu Ende. Nach 25 Jahren muss der Intendant, der jetzt ein letztes Mal an seinem Haus inszeniert hat, den Schlüssel abgeben. Im Sommer folgt der ungeliebte Chris Dercon, trotz massiver Proteste in der Stadt und im Haus selbst, in diesem auf Beharrung angelegten Widerstandsnest im Osten Berlins, das man unter dem belgischen Kurator nicht zur Eventbude verkommen lassen will.

Diese Befürchtung grassiert im Stamm der Castorfianer, weshalb am Ende der nicht enden wollenden Abschieds-Inszenierung der Applaus in zwei Richtungen stürmt: Der prasselnde Beifall ist auch eine Klatsche für Dercon, gegen den der regieführende Intendant schon sieben Stunden davor, im „Vorspiel auf dem Theater“, leicht gestichelt hat. Aber er gilt natürlich vor allem dem „Faust“ von Castorf selbst.

„Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil“: als Gesamtwerk ist es eine der größten Dichtungen der Weltliteratur, ein universaler Kosmos von Gedanken und Bildern, Reimen und Rhythmen, Sphären und Milieus – und eben genau die Herausforderung, die Castorf braucht, um sich mit einer herkulischen Großtat von seinem Theater zu verabschieden. Drunter wäre es nicht gegangen. Drüber aber auch nicht, mehr gibt die Literatur nicht her – und vielleicht hat der nicht unbescheidene Castorf unter dieser Einsicht so gelitten, dass er aus Goethes 12111 Versen wieder sein eigenes großes Ding sampeln, collagieren, montieren, assoziieren musste.

Er schreddert Goethe zwar nicht, aber er jagt ihn in eine inszenatorische Hexenküche, in der Sex und Begierde, Drogen und Voodoo, ewige Jugend und welkes Alter, koloniale Unterdrückung und antikolonialer Befreiungskampf wild brodeln. Und er hext diese Themen mit den von ihm jahrelang erprobten Mitteln auf die Bühne: mit Livespiel vor, in und hinter den Kulissen, das – um für die Zuschauer einsehbar zu bleiben – auf Leinwände übertragen wird. Wie immer bei Castorf. Und auch wie immer: die Totalüberforderung des Publikums.

Eine Art „Gothic Faustus Picture Show“

Castorf hat für seine Text-Bild-Sinn-Bombardements noch nie eine Lizenz gebraucht, aber im vorliegenden Fall könnte er sie sogar vom Weimarer Klassiker selbst bekommen. Im zweiten Teil der Tragödie macht Goethe, was er will. Er spielt mit Raum und Zeit und gesellt mythologische Gestalten der griechischen Antike zu Faust und Mephisto, die gerade dabei sind, den Kapitalismus zu erfinden – ein Szenenchaos, das von Castorf freudig in eine noch höhere Potenz gesetzt wird. Bei ihm gerät gleich alles in hellste Unordnung, auch das deutsche Mittelalter im ersten Teil, alles verliert seine Chronologie und Stringenz und Logik.

Es muss ein Wind in seinen Zettelkasten gefahren sein. Ach was, ein Orkan, der auch Zolas „Nana“ und den algerischen Befreiungskrieg herbei castorfisiert und Faust mit der Metro durch Paris fahren lässt. Dort hält der reißende Textstrom, selten genug, auch mal inne: Abdoul Kader Traoré, Schauspieler aus Burkina Faso, schleudert Goethes Zeitreisendem die „Todesfuge“ von Paul Celan entgegen, „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, auf Französisch – am faustischen Wesen hat die Welt tatsächlich nicht immer genesen.

Die geistestolle Kombination aus Faust, Paris, Metrostation Stalingrad und Algerien hat Castorf schon einmal einem Materialtest unterworfen, bei Gounods „Faust“, den er im Herbst in der Stuttgarter Oper herausgebracht hat – mit eben jenem Aleksandar Denic als Bühnenbildner, der auch jetzt in Berlin ein düster gotisches, mit Horrorfilmplakaten und kolonialistischer Werbung zugekleistertes, gewaltiges Montmartre-Paris aufgebaut hat. Denics Düsternis setzt sich im Zuschauerraum fort, wo er das Parkett unter Asphalt und die Wand unter schwarzen Lamellen verschwinden lässt: eine Theatergruft für eine zumindest phasenweise genialische „Gothic Faustus Picture Show“, in der Castorfs nibelungentreue Extremspieler wieder alles geben müssen, sollen, dürfen.

Die Männer sind Witzfiguren

Martin Wuttke zieht sich die Maske des greisen Goethe über und spielt Faust als vertrottelten, verschmuddelten, notgeilen Alten, zahnlos lallend und mümmelnd, von Demenz und Parkinson gezeichnet. Zwischendurch ist Wuttke aber auch Wuttke und klagt sich als Faust, der es Ernst mit sich meint, als menschenverachtender Wissenschaftler und Kolonialist an. Wenn er indes den Schlüssel zu Gretchens Zimmer bekommt, hält er nur einen fleischigen Gummipenis in der Hand, den er wie einen Zitteral vor seinem Bauch zucken und wackeln lässt. Am Ende kommt das Requisit nochmals zum Einsatz. Jetzt wird es dem Mephisto des Marc Hosemann umgeschnallt, denn „Das Ewigweibliche / Zieht uns hinan“, erst recht bei Castorf. Die Doppelfigur Margarete / Helena nimmt das wörtlich: Sie zieht Mephisto am Schwanz durch die Stadt. Die Männer sind Witzfiguren, denen Valery Tscheplanowa – sie vor allem – in Mehrfachrollen mit großer spielerischer Souveränität bei ihrem Eroberungsgerackere zuschaut.

Wuttke, Hosemann, Tscheplanowa, dazu unter anderem Sophie Rois, Lilith Stangenberg, Alexander Scheer, Lars Rudolph: Ohne Castorf wollen auch sie nicht mehr an der Volksbühne arbeiten. Noch ein Abschied, der vom Publikum weit nach Mitternacht gefeiert werden musste. Castorf selbst nahm die Huldigungen nur kurz entgegen. Anders als Peymann, der vor vier Wochen am Berliner Ensemble ebenfalls seinen Ausstand als Regisseur gab, verzichtete der Hexenmeister auf jegliche Kniefall-Theatralik, trat einmal aus den Kulissen und verschwand wieder. Ein würdiger Abgang für einen Mann, der die Theaterästhetik mit seiner Maßlosigkeit geprägt hat wie kein anderer im vergangenen Vierteljahrhundert. Die regulären Vorstellungen des „Volksbühnenfausts“ sind nahezu ausverkauft. Für die neu angesetzte Nachtaufführung am 18. März gibt es aber noch Restkarten. Dann kann man als unbeugsamer Theatersoldat auch das Morgengrauen erleben. Beginn der Schlacht: 23 Uhr.

Aufführungen am 10., 12., 17., 18. und 31. März sowie am 1., 14. und 15. April.