Spektakel statt Bollwerk: Atlético Madrid ändert seinen Stil. An diesem Dienstagabend (20.45 Uhr) geht es in der Champions League gegen Bayer Leverkusen.

Madrid - Es gibt doch immer wieder Überraschungen im Fußball. Vier Minuten, 45 Sekunden benötigte Einwechselstürmer Kevin Gameiro am Samstag in Gijón, um den schnellsten Hattrick in der spanischen Liga seit 1995 zu erzielen. Diese an sich schon beachtliche Leistung wird dadurch noch eindrucksvoller, dass der Franzose für Atlético Madrid kickt. Die Mannschaft mit der eisernen Defensive, der drei Treffer normalerweise für drei Spiele reichen. So will es jedenfalls ihre Legende.

 

Keine Mannschaft der großen europäischen Ligen hat in den vergangenen fünf Jahren so oft mit 1:0 gewonnen: 49-mal. In Deutschland führt dieses Ranking interessanterweise Bayer Leverkusen an, das Atlético an diesem Dienstag (20.45 Uhr) zum Achtelfinalhinspiel der Champions League empfängt. Es ist die Wiederauflage eines Duells von vor zwei Jahren, als es – Ehrensache – ein 1:0 sowie ein 0:1 gab, und selbst für das Elfmeterschießen die Finger einer Hand ausreichten. Von zusammen zehn Versuchen landete nur die Hälfte im Tor (Atlético drei, Leverkusen zwei), was immer noch eine grandiose Quote ergibt im Vergleich zu dieser Saison. Da hat Atlético von neun Strafstößen bloß drei verwandelt und Leverkusen von sechs gerade mal einen.

Der Wandel der ewigen Minimalisten

Und so könnte man mit den Klischees weitermachen – würde sich Atlético Madrid von ihnen nicht sukzessive verabschieden. Kevin Gameiros Hattrick war in Wirklichkeit mehr als eine Laune des Spiels, er steht auch für einen Wandel der ewigen Minimalisten. Die schludern hinten plötzlich, halten die Null oft nicht mal mehr eine Halbzeit und kassierten in 23 von 38 Ligaspielen schon mehr Gegentore als in der ganzen Vorsaison. Dafür wird vorn Spektakel geliefert. „Die einst sichere, stählerne, effiziente, aber unattraktive Mannschaft ist jetzt eine Bande von Abenteurern“, schreibt „As“.

Die Trutzburg ist geschliffen, die Spielverderber kicken mit. Ob dieser Stilwechsel heute auch auf europäischer Bühne aufgeführt wird, darf mit Spannung erwartet werden. Ebenso unklar ist bislang, ob er überhaupt einem Masterplan folgt. Handelt es sich um einen Schritt nach vorn – oder um die Flucht nach vorn?

Durch die Erfolge der vergangenen Jahre verfügt Atlético inzwischen über ein ansehnliches Jahresbudget (266 Millionen Euro) und einen der Stars des Weltfußballs (Antoine Griezmann); außerdem steht im Sommer der Umzug in eine neue Fünfsternearena an. Der ewige Underdog mutiert zur handelsüblichen Spitzenmannschaft. Wo vor zwei Jahren noch ein grimmiger Block mit Kämpen namens Raul García oder Mario Suárez den Platz umpflügte, sind die prägenden Figuren jetzt filigrane Stürmer wie Griezmann, Gameiro oder Yannick Carrasco. Viel Schießpulver, viel Potenzial, aber hinter ihnen bieten sich den Gegnern dafür manchmal freie „Lagunen“ – so Vereinslegende Kiko –, und wenn es nicht läuft, pfeifen die Zuschauer schon mal ein bisschen schneller. Auch der Unterhaltungsanspruch ist eben gestiegen.

Madrid wirkt auf einmal porös

Trainer Diego Simeone scheint den Wandel vorsichtig zu forcieren – seine Spieler und mehr noch er selbst brauchten nach dem traumatischen Champions-League-Finale gegen Real Madrid (Elfmeter in regulärer Spielzeit verschossen, Elfmeterschießen verloren) einen neuen Impuls. Oft agiert jetzt der kreative Koke in der Mitte, ein Zerstörer wurde dafür geopfert. Doch im Spätherbst setzte es plötzlich so deftige Pleiten wie noch nie in Simeones Amtszeit. Die Hinserie wurde mit dem schlechtesten Punktesaldo seiner fünf Jahre beendet und außer gegen die Bayern in der Champions League gelang kein Sieg gegen ein Spitzenteam. Wie früher wird Atlético phasenweise dominiert, aber anders als früher scheint es den Rückzug nicht mehr zu genießen. Das Pressing nicht mehr so harmonisch, die Linien nicht mehr so kompakt, die Lufthoheit nicht mehr so souverän: alles wirkt ein bisschen poröser.

Die Spieler haben den Identitätsverlust offen angesprochen, auch das ein Novum unter Simeone. „Wir müssen wieder wir selbst sein, sonst läuft alles aus dem Ruder“, kritisierte Griezmann schon früh in der Saison. Angesichts von Platz vier in der Liga und nach einem unglücklichen Pokal-Aus gegen den FC Barcelona bleibt die Champions League als letzte Titelchance einer Mannschaft, deren Kerntugend Disziplin auf dem Prüfstand steht. Dass sich Verteidiger Lucas Hernández wegen des Vorwurfs eines gewalttätigen Streits mit seiner Freundin vor Gericht verantworten muss, passt irgendwo ins Bild – er wird wegen der Vernehmung erst wenige Stunden vor dem Spiel in Leverkusen eintreffen.