Der „Brief an die Heuchler“ des ermordeten Chefredakteurs von „Charlie Hebdo“ liegt jetzt auf Deutsch vor: Stéphane Charbonnier alias Charb setzte auf die Vernunft der Muslime.

Stuttgart - Entschuldigung, sind Sie islamophob? Falls ja, hat Stéphane Charbonnier vielleicht einen kleinen Trost für Sie. In seinem Pamphlet „Brief an die Heuchler – und wie sie den Rassisten in die Hände spielen“ schreibt der französische Satiriker und Cartoonist: „Die Angst vor dem Islam ist wahrscheinlich dumm, absurd und noch vieles mehr, aber ein Vergehen ist sie nicht.“

 

Trost allerdings hatte Charbonnier kaum im Sinn, als er diesen Text verfasste. Der „Brief an die Heuchler“ sollte der schneidige Beitrag zu einer hitzigen Debatte werden, ein Rundumschlag gegen falsche Anklagen und Rücksichtnahmen, die zum falschen Denken führen. Als normalen Debattenbeitrag aber kann man diese in der deutschen Ausgabe nun 94 Seiten umfassende Schrift nicht wahrnehmen. Zwei Tage nach Fertigstellung des Manuskripts ist Stéphane Charbonnier, besser bekannt unter seinem Zeichnerkürzel Charb, ermordet worden. Er war Chefredakteur der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, in und vor deren Räumen zwei islamistische Terroristen am 7. Januar 2015 zwölf Menschen umgebracht haben.

Ist es ein Vermächtnis?

Die Bilder des mit militärischer Präzision ausgeführten Anschlags sind, vorerst zumindest, Teil des kollektiven Gedächtnisses. Sie machen deutlich, dass wir da keine Fanatismuseruption einiger aggressiver Wirrkröpfe vor uns haben, sondern einen Teil des asymmetrischen Zermürbungskriegs gegen freiheitliche Rechts- und Gesellschaftsordnungen.

Das ist ein andauernder Schock, und so können wir gar nicht anders, als den „Brief eines Heuchlers“ als Vermächtnis lesen zu wollen – als Rechtfertigung jener Risiken, die Charb und seine Mitstreiter trotz vieler Drohungen eingingen, als Streitschrift zum Umgang mit Einschüchterungsexperten und Mördern, die mitten in einer Gesellschaft der Meinungsfreiheit Tabuzonen einrichten, Sprechverbote verhängen, Todesurteile sprechen und vollstrecken.

Es wird keinen überraschen: mit diesen Erwartungen ist der Text überfordert. Er enthält keine düsteren Vorahnungen, kein Raunen quasi-testamentarisch letzter Weisheiten. „Brief an die Heuchler“ zielt auf konkrete, eher französische als deutsche Konflikte, ist aber immer vom Glauben getragen, dass das Zeichnen, Schreiben, Reden noch hilft und man mit dem Bleistift noch nicht gegen Kalaschnikows vor der Tür, mit Karikaturen noch nicht gegen Todesschwadronen im Land antreten muss.

Trotz allem: er setzt auf die Vernunft der Muslime

Charb beharrt darauf, dass die Islamisten eine extreme Minderheit seien. „In Wirklichkeit“, schreibt er, „gibt es nicht viele gläubige Muslime, die alle religiösen Vorschriften befolgen. In ihrer Mehrzahl sind sie keine Mitglieder in religiösen Vereinen, ob diese nun gemäßigt sind oder nicht.“ Folglich klagt er, das ist die Stoßrichtung seines Textes, jene an, die in Frankreich rassistische Haltungen oder Äußerungen immer häufiger als „islamophob“ charakterisieren, seien sie nun tiefgläubige Muslime oder liberale Atheisten.

So, meint Charb, trete der reale Angriff auf Menschen hinter den behaupteten Angriff auf die Religion zurück. Ganz im Sinne der Islamisten werde so die Religion über das Individuum gestellt und zugleich den Radikalen die Deutungshoheit über das Empfinden der Mehrheit zugesprochen: „Wer sind die Menschen mit Islamophobie? Das sind Personen, die behaupten, Muslime seien blöd genug, beim Anblick einer skurrilen Zeichnung in helle Aufregung zu geraten. Eine Zeichnung, die Muslime in ihrer Mehrheit nur sehen konnten, weil sie auf allen Kanälen gezeigt wurde.“

Wie aber kommt es dann, bei der von Charb ausgemachten Vernunft der meisten Muslime, zum aufgeheizten gesellschaftlichen Klima? Zumindest eine griffige Antwort bietet der Text: „ Die Islamophobie ist nicht bloß ein Geschäft für diejenigen, die sich zu ihrer Gegnerschaft bekennen, sondern auch für die Presse, die sie fördert.“

Über diesen Vorwurf würde wohl mancher Journalist mit Charbonnier gern diskutieren, vor allem, weil der Satiriker kein Wort zur heiklen Grenzziehung zwischen der Pflicht zur Berichterstattung und der Tugend der Zurückhaltung verliert. Aber die Mörder haben sichergestellt, dass Charb über diese Streitschrift hinaus nichts mehr sagen kann.