Roger Norrington gibt im Bethovensaal seinen Ausstand als Chefdirigent des RSO Stuttgart. An Lob und Ehr herrscht kein Mangel.  

Stuttgart - Gustav Mahler war ein leidenschaftlicher Dirigent und Komponist. Ein Diplomat war er nicht. Kaum als Wiener Hofoperndirektor angekommen, zürnte Mahler am Dirigentenpult und prägte eines seiner bis heute meistkolportierten Bonmots: "Was ihr Theaterleute eure Tradition nennt, ist nichts anderes als eure Bequemlichkeit und Schlamperei."

 

Als Roger Norrington 1998 beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zum ersten Mal das Pult betrat, gab es von ihm kein Zürnen und keine markigen Zurufe. Beim RSO Stuttgart gab es ja auch keine als Tradition getarnte Schlamperei zu beklagen. Am Pult dieses Orchesters hatten zuvor Individualisten wie Sergiu Celibidache, Neville Marriner, Georges Prêtre oder Gianluigi Gelmetti den Ton angegeben, ein jeder mit einem sehr eigenen Blick auf den doch vielfarbig schillernden Begriff der Tradition.

Von manchen wurde Norrington als kauzig bezeichnet

Mit Roger Norrington allerdings sollte dieser Begriff ein ganz neue, eine ganz eigene Färbung erhalten, eine, die im internationalen Stilkatalog heute als "Stuttgart Sound" firmiert. Für seine Idee, nicht nur Werke von Haydn oder Beethoven nach den Grundsätzen der historischen Aufführungspraxis zu spielen, sondern auch jene Mahlers, wurde Norrington von manchen belächelt, von manchen als kauzig bezeichnet. Er hielt es aus, stoisch, mit einer Prise schräg-englischen Humors, ja und auch mit der kokett gepflegten Attitüde des immer jugendlich-revolutionären Bad Boys.

Jetzt gab Roger Norrington nach dreizehn Jahren seinen Abschied als Chefdirigent des RSO. Auf dem Programm des Konzerts im Beethovensaal stand die neunte Sinfonie von Mahler. Von Norrington war das eine konsequente, eine mit Blick auf seine Ästhetik programmatische Wahl, die er im Programmheft im Kern so begründete: Mahler "ist ein vorausschauender, zukunftsorientierter Komponist, der tief in der Vergangenheit verwurzelt ist bei Schubert, Haydn, Schumann, Berlioz und Tschaikowsky. Ich denke, auch bei Mahler gibt es noch einiges zu entdecken".

Stetig gewachsene künstlerische Verbundenheit

Doch bevor Norrington ein letztes Mal als Chefdirigent des RSO auf Mahler'sche Entdeckungsreise ging, wurde er gefeiert, musikalisch und mit Worten. Das SWR Vokalensemble unter seinem Chefdirigenten Marcus Creed sang Mahler-Lieder in der Bearbeitung von Clytus Gottwald. Vermutlich hat das SWR Vokalensemble ein Lächeln auf das Gesicht von Norrington gezaubert, wie es "Die zwei blauen Augen" und das so wundersam weltfern klingende "Ich bin der Welt abhanden gekommen" sang, mit so sparsam verwendetem Vibrato, mit viel Lust an der feinen rhetorischen Mechanik der Stücke.

Dazwischen die Festreden vom Intendanten des SWR, Peter Boudgoust, und von Axel Schwesig, dem Orchestervorstand des RSO Stuttgart. Sie legten Zeugnis ab von einer in dreizehn Jahren stetig gewachsenen künstlerischen Verbundenheit. Der eine rühmte den "unabhängigen Denker", der Diplomat genug war, Ergebnisse erzielt habe, die "gewollt und nicht erzwungen" sind, dokumentiert auf mehr als fünfzig Einspielungen.

Der Geehrte bedankte sich mit Schuhwerk an den Füßen

Der andere beschrieb humorvoll, ausgehend von der Gewohnheit Norringtons, sich beim Arbeiten gerne der Schuhe zu entledigen, einen Dirigenten, der das Orchester oft mit schelmischer Freude und Experimentierlust zum Betreten von weißen Flecken auf der musikalischen Landkarte animiert habe. Nicht zuletzt dafür wurde Roger Norrington denn auch umgehend in den Rang eines Ehrendirigenten des RSO erhoben.

Der Geehrte bedankte sich - mit Schuhwerk an den Füßen - für eine wunderbare Zeit in Stuttgart, die er zu den Höhepunkten in seiner Karriere zähle, auch wenn manche Kritiker noch immer den Kern nicht verstanden hätten. Offenbar ist es doch ein Sakrileg, anders zu denken und anders zu musizieren als Roger Norrington. Schade, eigentlich, dass sich der souveräne musikalische Revolutionär für diese kleinen Lacher diese ein paar Nummern zu engen Schuhe angezogen hat.

Die Mechanik dieser Musik sollte langsam angetrieben werden

Das passte nicht, schon gar nicht in Anbetracht der dann in sich so schlüssig andersartigen Interpretation von Mahlers neunter Sinfonie, ohne Dauervibrato, ohne extra sahnigen Wiener Schmäh, stattdessen mit akkurat geschliffenen, metallisch blitzenden Ecken und Kanten. Wie aus dem Nichts kommend baute Norrington die 450 Takte lang dauernde unendliche Melodie des ersten Satzes auf, zunächst sehr zurückgenommen im Ton.

Die Mechanik dieser Musik sollte langsam, sehr langsam angetrieben werden, die Grundlage geschaffen werden, für all die fieberhaften irgendwie expressionistischen Explosionen, mit denen Mahler hier eine Klangwelt aufgebaut hat, die zum Zerreißen gespannt, die Verbindung zwischen neunzehntem und zwanzigstem Jahrhundert versucht. Die komponierte Irritation, das Aufeinandertreffen von dem etwas schwerfälligen Ländler, mit einem grotesk überzogenen Walzer und einem schier Zeitlupenhaften zweiten Ländler im zweiten Satz sollte Norrington an die äußersten Grenzen treiben, mit unbedingtem Mut zur intendierten Drastik.

Das abschließende Adagio dann formulierte Norrington souverän als ein langsames Auflösungsfeld, überzogen von hauchdünnem Vibrato, eingepasst in eine brillant ausgehörte Tempodramaturgie. Das RSO spielte grandios. Das Publikum applaudierte rasend. Roger Norrington lächelte, immer noch in Schuhen, nun in passender Größe.

Weitere Vorstellungen: 24. und 28. Juli