In einer Kiesgrube am Oberrhein liegen Tausende Tonnen Chemiemüll. Die Konzerne Roche und BASF müssen das Areal sanieren.

Grenzach-Wyhlen - Der grünblaue Rhein strömt friedlich dahin, im Ufergestrüpp zwitschern Vögel, als Peter Donath mit dem Fuß im trockenen Staub der ehemaligen Kiesgrube scharrt. „Wer hier nur einen halben Meter gräbt, landet im Gift“, sagt er. Donath kann die chemischen Formeln aus dem Kopf aufsagen. Ammonium, das Fische tötet. Chlorbenzole, die Krebs erregen. Das Schwermetall Arsen, das Tumore in Lunge und Leber verursacht. Das alles haben die Behörden in hohen Konzentrationen im Grundwasser gemessen. „Aber was jetzt hier passieren soll, das ist eine Farce“, sagt Donath.

 

Kaum jemand kennt die Kesslergrube und die Gefahr, die von ihr ausgeht, so genau wie Peter Donath. Auf den ersten Blick ist er ein ganz gewöhnlicher Senior: 72 Jahre alt, Karohemd, beige Hose. Wenn da nicht die Anglizismen wären. Donath sagt „Environment“ für Umwelt oder „Rest of the world“ für Rest der Welt. So redet jemand, dessen Arbeitssprache lange Englisch war. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 flog Donath als Spitzenmanager der Schweizer Firma Ciba Spezialitätenchemie um die Welt. Zu Chemiefabriken in Asien, zu Werksgeländen in den USA, zu Chemiemülldeponien in der Schweiz.

Als Chef des globalen Risikomanagements schrieb Donath Expertisen für den Vorstand. Als Rentner schreibt er Gutachten für die örtliche Bürgerinitiative in Grenzach-Wyhlen. Er hat die Seiten gewechselt. Und das liegt auch an seinem Ex-Arbeitgeber Ciba, den inzwischen der deutsche Chemieriese BASF übernommen hat. „Das Gift muss raus aus der Kesslergrube und zwar endgültig“, sagt Donath, „aber da machen die nicht mit.“ Donath zeigt auf einen Zaun, der die Kiesgrube in zwei Teile zerschneidet. Er trennt die böse von der guten Sanierung, den Abschnitt der deutschen BASF von dem der Schweizer Roche. So sieht jedenfalls Donath die Sache.

320 000 Verdachtsfälle

Wie viel Chemiemüll in der Kesslergrube liegt, weiß niemand genau. Es gibt keine Aufzeichnungen. Schätzungen gehen von mehr als 15 000 Tonnen aus. Es könnte aber auch das Doppelte und Dreifache sein. Die chemische Industrie hat in der Kesslergrube organische Lösungsmittel, Galvanikschlamm und Schwermetalle abgekippt – oft in ganzen Fässern. Das war in den 1950er Jahren. Danach kam Schutt und Hausmüll obendrauf. „Sie hielten das für Fortschritt, weil sie das Gift nicht mehr direkt in den Rhein einleiteten“, sagt Donath. Auch die Ciba hat hier abladen lassen, aber das war vor Donaths aktiver Zeit. Der Boden ist heute dauerhaft verseucht.

So ist das vielerorts in Deutschland, der Schweiz und Frankreich. Die Industrie hat den Ländern in den vergangenen 200 Jahren zu Wohlstand verholfen. Sie hat aber auch Altlasten hinterlassen. Allein in der Bundesrepublik gibt es 320 000 Altlasten-Verdachtsfälle, von denen laut Bundesumweltamt jeder zehnte saniert werden müsste. Seit Jahrzehnten war abzusehen, dass die Kesslergrube aufgeräumt werden muss. Aber der deutsche Amtsschimmel ist kein Rennpferd. Seit 1988 wird in der ehemaligen Kiesgrube gemessen, bewertet und geprüft. Seit 2011 steht fest, dass die Sanierung Pflicht ist. Sie käme noch nicht zu spät: Das vergiftete Grundwasser werde zurzeit von einem Industriebrunnen abgesaugt, heißt es im Lörracher Landratsamt. Erst wenn der eines Tages abgeschaltet wird, landen die Gifte tatsächlich im Rhein.

Dass jetzt etwas passieren muss, darüber sind sich alle einig: Peter Donath und die Bürger der Gemeinde Grenzach-Wyhlen, ihr Bürgermeister, das Landratsamt und die beiden Konzerne BASF und Roche, denen die Kesslergrube gehört. Wie das geschehen soll, darüber tobt unter den Beteiligten indes ein heftiger Streit.

Auf dem Papier ist alles in Ordnung

Rechts vom Zaun will Roche in ihrem Abschnitt für 240 Millionen Euro das gesamte Erdreich ausheben und entfernen lassen. Das ist laut der Bürgerinitiative die gute Sanierung. Links vom Zaun plant die BASF, die Gifte im Boden einzuschließen und dauerhaft zu versiegeln. Das kostet zwar nur 30 Millionen Euro – „aber das Gift bleibt drin, das Problem wird auf unbekannt vertagt“, sagt Donath. Er wohnt nur ein paar Hundert Meter von der Grube entfernt in Grenzach-Wyhlen. „Wenn ich sehe, was sie heute hier vorhaben, werde ich richtig wütend“, sagt der Rentner.

Seine Wut richtet sich nicht nur gegen die Firma, denn die Lösungen von BASF und Roche sind beide nach dem deutschen Bodenschutzgesetz konzipiert und auf dem Papier völlig in Ordnung. Deshalb hat das Landratsamt beide Sanierungsansätze genehmigt.

So ist das tatsächlich in Deutschland: Altlasten müssen selbst dann nicht vollständig beseitigt werden, wenn Ämter einen Sanierungsbedarf zwingend festgestellt haben. Im Sinne des Bodenschutzgesetzes reicht es aus, dass der Weg des Gifts zum Menschen dauerhaft unterbrochen wird. Das will die BASF gewährleisten.

Die BASF verteidigt sich

Einige Stunden später steht auf seiner Seite des Zauns der BASF-Manager Livio Ulmann vor einem Betonbecken, in dem eine braune Flüssigkeit Blasen schlägt. Die Bürgerinitiative mache es sich zu einfach, sagt Ulmann. Erstens sei das BASF-Areal anders als die Roche-Brache mit einem Klärwerk überbaut. Zweitens sei das Gelände zweieinhalbmal so groß. Drittens sei die Schadstoffkonzentration geringer.

BASF will die Oberfläche mit einer Spezialfolie abdichten, damit kein Wasser eindringt. „Der belastete Boden wird mit einer 815 Meter langen und bis zu 31 Meter tiefen unterirdischen Dichtwand umschlossen“, sagt Ulmann. Nach unten verhindere der Felsgrund aus Muschelkalk den Wasserabfluss. Durch die Grundwasserentnahme werde ein Druckgefälle erzeugt, damit kein kontaminiertes Wasser entweichen könne. Ob das gelingt, bezweifeln Experten wie der Basler Geograf Martin Forter, auch die Aussage, dass die Schadstoffmenge geringer sei, „bloß eine Annahme der BASF“.

In Grenzach-Wyhlen sind viele Bürger über den Plan der BASF entsetzt. Sie verstehen nicht, dass ein Konzern mit einem Jahresüberschuss von mehr als fünf Milliarden Euro das Altlastenproblem in unbestimmte Zukunft verschiebt. Die Gifte werden erst in 13 000 Jahren abgebaut sein. „So lange hält keine Einkapselung“, sagt Donath. Früher oder später müsse das Bauwerk erneuert werden. Dann würden wieder 30 Millionen fällig, um den Giftmüll in Schach zu halten. Wenn diese Summe dann noch reiche.

Warum geben die Schweizer mehr Geld aus?

Die Bürger schimpfen auf die BASF. Es gehe ja auch anders, sagen sie und zeigen auf die Pläne der Firma F. Hoffmann-La Roche. Rund 300 000 Tonnen Erdreich will das Unternehmen austauschen, das entspricht dem Gewicht von drei Golden-Gate-Brücken. Ein Schiffsanleger und eine luftdichte Leichtmetallhalle werden errichtet. Hinein dürfen nur Bagger mit eigener Sauerstoffzufuhr. Hinaus kommen Giftmüllcontainer durch eine Schleuse. Roche sei auf alle Risiken vorbereitet, erläutert der Chefsanierer Richard Hürzeler, auch auf Explosionen oder giftige Gase: „Wir wollen 2022 mit gutem Gewissen vom Standort abrücken.“ Der ausgegrabene Müll soll in Sonderöfen verbrannt werden, wie es heute bei Chemiemüll normal ist.

Die Schweizer spielen mit rund 45 Milliarden Euro Umsatz und 16 Milliarden Gewinn in der gleichen Liga internationaler Großkonzerne wie die BASF. Aber für die Kesslergrube wollen sie viel mehr Geld ausgeben, als sie nach dem deutschen Bodenschutzgesetz eigentlich müssten. Warum?

Zum einen steckt dahinter wirtschaftliches Kalkül: Ist die Giftquelle bereinigt, fallen nie wieder Kosten an. Ein unbelastetes Grundstück bietet mehr Optionen – für einen eigenen Neubau genauso wie bei der Suche nach Investoren. Möglicherweise liegt der in Basel beheimateten Roche auch die Oberrhein-Region besonders am Herzen. Außerdem ist für Roche ein schlechtes Image gefährlich: Der Pharmahersteller muss Patienten von seinen Medikamenten überzeugen. Verständlich, dass er nicht mit Gift in Verbindung gebracht werden will. Roche hat einige Baucontainer an der Kesslergrube aufgestellt. Mitarbeiter berichten darin Bürgern, Schulklassen und Journalisten von ihren großen Plänen.

Wie beurteilt der Bürgermeister die Lage?

Die BASF hat ihre Konzernzentrale hingegen nicht am Oberrhein, sondern 250 Kilometer flussabwärts in Ludwigshafen. In Grenzach-Wyhlen arbeiten lediglich 200 von 113 000 Mitarbeitern. Das Image ist nicht so wichtig, denn der Chemieriese liefert hauptsächlich Zwischenprodukte für andere Unternehmen.

Das Zentrum des Widerstandes gegen die BASF-Pläne liegt nicht weit von der Kesslergrube an einem Hang. Im Rathaus kommt der Bürgermeister Tobias Benz in das Besprechungszimmer. An der Wand hängen Gemälde seiner Vorgänger und ein Flachbildschirm. Der junge Verwaltungschef trägt eine blaue Krawatte, ein Einstecktuch und Manschettenknöpfe. Soeben hat er vor der Lokalpresse eine Linde gepflanzt. Jetzt geht es um das Große und Ganze: die Chemieindustrie, die Altlasten, die Zukunft.

Das Ciba-Werk schrumpft seit Jahren. Früher kamen 2000 Arbeiter zum Schichtdienst. Die Zeiten sind vorbei. Die meisten Chemikalien werden jetzt aus Asien importiert. So viele Hallen sind demontiert worden, dass man auf der Leerfläche einen Jumbo landen lassen könnte. Im Ort geht die Angst um, BASF könnte den Standort ganz schließen. Der Bürgermeister von Grenzach-Wyhlen muss die Auswirkungen der Globalisierung abfedern, so gut es geht.

Tobias Benz ist 33 Jahre alt und seit Dezember im Amt. An seinem zweiten Arbeitstag flatterte ihm der Sanierungsbescheid des Kreises Lörrach ins Rathaus: Die verbindliche Bewilligung der Pläne von BASF und Roche. „Wir haben einen erfahrenen Umweltrechtler engagiert und Widerspruch eingelegt“, sagt Benz. Die Gemeinde stellt sich damit auf die Seite der Bürgerinitiative. Und gegen das Landratsamt und BASF. Benz sagt, er sei bereit zu klagen. „Wir dürfen nichts unversucht lassen, auch wenn es schwer wird.“

Die Bürger sehen schwarz

Früher arbeitete er als Assistent des Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen – am Forschungszentrum Generationenverträge. Nun ist er Bürgermeister in einer Gemeinde, in der ein Generationenvertrag zu scheitern droht. Er sagt: „Jahrelang hat Grenzach-Wyhlen von der Gewerbesteuer der Chemieindustrie gut gelebt, aber wir können die Gifte nicht ewig an unsere Kinder und Kindeskinder weitergeben.“ Im Ort leben 14 000 Menschen, es gibt ein Hallenbad, drei kommunale Kitas, vier Sporthallen – die Infrastruktur einer doppelt so großen Stadt. „Wir dürfen nicht vergessen, woher das Geld dafür kommt“, sagt Benz. Er klagt gegen die BASF und nimmt den Konzern zugleich in Schutz. „Es ist eben nicht alles schwarz-weiß.“

Viele Bürger sehen hingegen nur schwarz – wozu auch die unglückliche Öffentlichkeitsarbeit der BASF beigetragen hat: Vor einem Jahr beauftragten der Konzern, die Gemeinde und der Landkreis gemeinsam einen Gutachter. Er sollte die Sanierungsvarianten Aushub und Einkapselung für das BASF-Areal vergleichen. Ein neutraler Mann, ein kluger Schachzug. Nur: in seinem 91 Seiten starken Gutachten kam der Sachverständige zu dem Schluss: „Bei allen Szenarien ist die Variante Aushub nachhaltiger als die Einkapselung.“ Über das Papier darf der Gutachter jetzt nicht mehr öffentlich sprechen. Zwar haben ihn Gemeinde und Kreis von seiner Schweigepflicht entbunden, nicht aber die BASF. Die Bürger haben den Eindruck, dass der Chemiekonzern dem Experten einen Maulkorb verpasst hat, weil er nicht zum gewünschten Ergebnis gekommen ist.

Beim Griechen in der Ortsmitte sitzt Peter Donath vor einem Teller Gyros. Er spricht über die Beschaffenheit des Muschelkalks in der Grube, das vergiftete Grundwasser, die Pläne der Bürgerinitiative. Er ist 72 Jahre alt. Hat er nicht langsam genug von dem Kampf? Was treibt ihn noch? Donath hält kurz inne. „Sie haben den Standort Grenzach-Wyhlen kaputt gemacht“, sagt er. Das könne er als ehemaliger Ciba-Mann nur schwer verschmerzen. „Wenn die hier schon dichtmachen“, sagt Peter Donath, „dann sollen sie die Flächen wenigstens sauber hinterlassen.“

Erneute Ratlosigkeit

Er glaubt, dass die BASF beim Kauf der Ciba AG 2007 ausgerechnet in seinem früheren Fachgebiet schwere Fehler gemacht hat – dem Risikomanagement. „Es gab damals kaum Rückstellungen für die Ciba-Altlasten. Die BASF hat die Katze im Sack gekauft“, sagt er. „Damit der Fehler den Anlegern nicht auffällt, muss die Kesslergrube möglichst billig saniert werden.“

Die BASF lässt den Vorwurf nicht gelten: Die übernommenen Altlasten seien „bereits im Vorfeld bei der Gesamtbewertung angemessen berücksichtigt“. Laut Geschäftsberichten hat die BASF 221 Millionen Euro für Altlasten aus der Ciba-Akquisition zurückgestellt, explizit für Standorte in den USA und in der Schweiz.

Dazu zählt eine der teuersten Ciba-Altlasten überhaupt, die bis 2016 im Schweizer Ort Bonfol beseitigt wird. Chemiekonzerne haben dort in den 60er und 70er Jahren mehr als 100 000 Tonnen Giftmüll in eine Tongrube gekippt. Die Sanierung ist ein gewaltiges Projekt, Roboter machen die Drecksarbeit. Die BASF ist als Nachfolger der Ciba finanziell beteiligt – mit mehr als 150 Millionen Euro. Das eigentlich vorbildliche Engagement löst in Grenzach-Wyhlen erneut Ratlosigkeit aus. Wie sollen die Bürger auch verstehen, dass die BASF im Nachbarland so viel großzügiger ist?