Patagonien ist nicht nur windige Steppe. Die kaum bekannte Region Aysén trumpft mit Bergen, Gletschern, Vulkanen und wundervollen Höhlen auf.

Domingo Vargas hat große Hände. Er kann es nicht gewesen sein. Mit der rechten zeigt er auf den Felsüberhang hinter sich. Dutzende kleine Handabdrücke in rot leuchtender Farbe sprenkeln das Gestein. Hat er dort als Kind gespielt? „Nein, nein“, sagt lachend der Chilene, der hier als Fremdenführer arbeitet und trotz seiner großen Extremitäten eher von kleiner Statur ist. In Lederjacke und mit Sonnenbrille zeigt er den Besuchern eine Besonderheit im Reservat Cerro Castillo in der chilenischen Region Aysén in Patagonien. „Mein Bruder entdeckte die Höhle der Hände im Jahr 1973“, erzählt Domingo Vargas. Anfangs wusste niemand um deren Bedeutung. Erst seitdem Forscher das Vermächtnis der Vorfahren als ähnlichen Schatz wie die berühmte Cueva de las Manas („Höhle der Hände“) in Argentinien erkannt haben, kommen immer mehr Urlauber und bestaunen die Zeichen, die Tehuelche-Indianer vor 3000 Jahren hinterließen. Der Weg dorthin führt über einen unbefestigten Lehrpfad hinauf. Am Weg wuchern rot blühende Fuchsien. Kein Zaun, kein Tor riegelt die Felsgalerie ab. Am Abend, wenn die Sonne hinter den feinen Zacken des 2300 Meter hohen Berges Cerro Castillo langsam verschwindet, schließt Domingo das Holzhäuschen, in dem er Eintritt kassiert, ab. Dann kann hier jeder einfach entlangspazieren. „Leider scheren sich die Einheimischen wenig um den Schutz der Stätte, bedauert Domingo Vargas. Vielleicht gibt es einfach zu viele davon. In der Umgebung soll es noch 50 weitere solcher Höhlen geben. Die meisten liegen im unzugänglichen Dickicht der Wälder und sind für Besucher noch gar nicht erschlossen.

 

Unter den Reisezielen in Chile ist die Region Aysén die eher unbeachtete Schwester der beliebten Atacamawüste im Norden und des Nationalparks Torres del Paine im Süden. Dabei ist sie äußerst charmant mit ihren Gletschern, Vulkanen und riesigen Seen, in denen sich verschneite Berggipfel spiegeln. Mit ihren verwunschenen Wäldern und rauschenden Wasserfällen gilt sie als grüne Lunge Chiles. Am Fluss Rio Simpson sprießen meterhohe Rhabarberpflanzen, die auch für den Nationalaperitif Pisco verwendet werden. Das Klima ist hier weniger rau als in Feuerland, die Landschaft abwechslungsreicher. Der zweitgrößte See Südamerikas ist der Lago General de Carrera - dreieinhalb mal so groß wie der Bodensee. Über dem dunkelblauen Wasser leuchtet der Schnee auf den Gipfeln der Berge am Horizont. Darüber spannt sich ein schlumpfblauer Himmel. Am Ufer wackeln gelbe Lupinen im Wind. In Puerto Tranquilo wartet Pedro schon. Der Bootsführer tuckert täglich mehrmals zu den Marmorhöhlen im See. Kaum sind alle eingestiegen und die Schwimmwesten angelegt, hopst das Elektroboot über die Wellen. Der Wind kämmt die Augenbrauen. An einer Felsinsel, die die Form eines Helms hat, drosselt Pedro den Motor und manövriert das Boot vorsichtig in das Steingewölbe. Seit drei Millionen Jahren nagen Wind und Wellen schon an dem Fels. Dabei haben sie kunstvolle Kurven hineingefräst, fast so als wäre Surrealist Salvador Dalí am Werk gewesen. In der Sonne schimmern freigelegte Marmoradern in Rosa-Gelb-Blau. Die Oberfläche fühlt sich an wie die feinen Dellen eines Golfballs.

Touren ohne technische Hilfe und Trägerbegleitung

Auf der anderen Seite des Sees bietet auch Philippe Reuter Ausflüge zu den Marmorhöhlen und in die Umgebung an. Der drahtige Franzose kam vor 30 Jahren nach Puerto Guadal und baute die erste Lodge für Touristen am Ufer des Sees - mit Blick auf den San-Valentin-Gletscher am Horizont. „Damals war hier nichts als wilde Natur, keine Häuser, keine Autos, keine Infrastruktur“, sagt er. Gerade deshalb hat er hier seine Bestimmung gefunden. „Hier macht man Touren ohne technische Hilfe und Trägerbegleitung. Ich liebe diese Freiheit“, sagt er und seine Augen leuchten dabei. Für seine Gäste hat er ein Aktivitätenpaket mit Mountainbiken, Reiten, Gletscherbesteigung und Rafting organisiert. Am Abend können sie in der Sauna entspannen oder im Hot Tub heiß baden, den Wellen zuhören und die Sterne zählen. Jede Nacht blinken mehr Sterne am Himmel, je weiter südlich man reist. In der Region Magallanes scheinen sich Himmel und Erde immer näher zu kommen. Tagsüber hängen die Wolken so tief, dass man meint, ein Stück herauszupfen zu können. Magallanes ist auch das Land der Gauchos. Oft monatelang ziehen die Rinderhirten von Weidegrund zu Weidegrund. Es ist ein tierisches Konzert, wenn sie unter lauten „Ho-“ und „He“-Rufen ihr Vieh über eine Straße treiben, ihre Hunde bellen und die Rinder aufmüpfig muhen. Inzwischen gibt es mehr Rinder- als Schaffarmen, denn Fleisch bringt mehr ein als Wolle.

Auch Erik Eberhard, ein langhaariger Chilene mit deutschen Wurzeln, hat eine Rinderfarm bei Puerto Natales. In seiner Gaststube duftet es nach knusprig gegrilltem Lamm-Asado. Während des Essens erzählt er vom Leben seines Urgroßvaters, dem deutschen Seefahrer Hermann Eberhard. Dieser kam als Pionier nach Patagonien und gründete hier die erste Viehfarm. Nach dem Essen zeigt er den Besuchern die bedeutendste Höhle Chiles, die sein Urgroßvater entdeckt hatte. Darin fand er Hautfetzen eines Riesenfaultiers, das seit über 10 000 Jahren ausgestorben ist. Knochenfunde belegen auch, dass einst Riesenlamas, urzeitliche Panther und Säbelzahntiger in der Umgebung lebten. Aus dem Dunklen im Innern hört man ein Klopfen und Schaben. Eine Grubenlampe blitzt auf. Archäologen mit Helmen auf den Köpfen schaufeln Erde und sieben Steinchen. Einer von ihnen ist der Anthropologe und Paläontologe Lúis Borrero: „Es ist so spannend“, sagt er. „Hier kann man die Erdgeschichte bis zur letzten Eiszeit zurückverfolgen. Womöglich haben wir Knochenreste von einem weiteren frühzeitlichen Raubtier gefunden.“ Schnell stapft er zurück zu seinen Kollegen, als könne der fossile Fund sonst fliehen. Arbeitslos werden die Archäologen so schnell nicht. Schließlich warten noch zahlreiche unentdeckte Höhlen in Patagonien.