Zwei Wochen Phonetik und Grammatik zwischen Sandstaub und Kunstseen. Mein Abenteuer als Englisch-Lehrerin in der Wüste Gobi.

Stuttgart/Jiuquan - Zaoshang hao!“, ruft eine Männerstimme. „Hao? Dritte Tonhöhe!“, antworte ich noch halb im Traum. Doch vor mir steht nicht Wang laoshi, mein Stuttgarter Chinesischlehrer, sondern ein Steward. „Good morning in Beijing!“ Schnell die Lehrbücher in den Rucksack, übermorgen soll ich in der Wüste Gobi Englisch unterrichten. „Oral English für besonders schüchterne Berufsschüler.“ So stand es in dem Brief der Münchner Hanns-Seidel-Stiftung, die mich dazu eingeladen hat. „Nein, Lehrerfortbildung“, hieß es dann plötzlich. Vor dem Abflug habe ich mein Smartphone vollgeladen: Beatles, Katie Melua, englische Trickfilme, Königstraße mit Schloss, Cafés und Flaneuren. Ich werde meinen Schülern, wer immer sie sein mögen, Stuttgart zeigen.

 

Von Peking sind es noch fünf Flugstunden, westwärts nach Gansu, einer der ärmsten Provinzen Chinas. Zwischenstopp in Lanzhou, von jetzt an bin ich die einzige Ausländerin unter den Passagieren. Schon als Kind wollte ich unbedingt in die Wüste. „Ist sie weit von hier, die Gobi?“ Die Kollegin, die mich am Flughafen abholt, lacht und schiebt mich ins Freie. Staub umwirbelt uns, der Himmel ist schmutzig gelb. Die Wüste ist überall, sie sitzt in der Nase, zwischen den Zähnen. Sie dringt durch die geschlossenen Fenster unseres Autos. Vor ein paar Stunden hat ein Sandsturm die Oasenstadt Jiuquan eingehüllt. Das College liegt am Rande, man ahnt seine Weiträumigkeit nur. Moderne Gebäude in „Taschkent Blau“, ein intensives Türkis, das ich von anderen Orten der Seidenstraße kenne. Vor dem Wohnhaus der Lehrer eine Allee schwankender, zartgrüner Weiden.

Anderntags sitzen acht Frauen und zwei Männer vor mir. Alle um die dreißig, schick gekleidet, so aufgeregt wie ich. „Good morning. How do you do?“ Jetzt die Frage auf Chinesisch: „Ni hao ma?“ Sie antworten im Chor: „Hen hao!“ Zackig wie auf dem Exerzierplatz. Ich erzähle von mir, dass ich ein Büchermensch bin, gern wandere, von meiner Kindheit. Mrs. Lei, eine rundliche Schöne, sagt, Bücher und Sport seien auch in Jiuquan wichtig. Einer nach dem anderen stellt sich vor, die meisten verstehe ich kaum. Ein Englisch ohne R, das D hat ein Echo. Die Is würgen sie heraus wie Bandwürmer, gehackte Sätze, ohne Melodie.

Chinesen mit englischen Namen

Sie sind Englischlehrer in den Fächern Agrartechnik, Touristik, Automechanik. Verheiratet, ein Kind – „eines nur“. Aufgewachsen in Jiuquan. Städter also, soweit ich verstehe. Aus ihrer Studienzeit haben sie englische Namen, die ihnen ihre vermutlich lausig artikulierenden Englischlehrer verpassten: Lesley, Brenda, Mary und Jessica, der sanfte der beiden Männer heißt Peter, der laute auch. „Questions“ schreibe ich an die Tafel. „Unser Thema heute: Fragen stellen.“ – „Das sind wir nicht gewöhnt“, entgegnet Peter, der Leise. – „Fragen Sie mich aus!“ Und tatsächlich, sie fragen: Wie gefällt Ihnen China? Kochen die Männer in Deutschland? Höflich sind sie und allgemein.

Ich packe die Stuttgart-Fotos aus. Sie betrachten sie neugierig. „Beggars?“ Gibt es dort wirklich Bettler? Aufsehen erregt ein Behälter mit einem Hundekopf auf der Frontseite. Was ist das? Sammelt man darin Essen für arme Hunde? „For dogshit“, witzelt Brenda. „Nonsense!“ lachen die anderen. „Doch!“, sage ich. – „Oh, ihr macht Gartendünger daraus!“ Jetzt lache ich. Wie kostbar Dung in der Wüste ist, werde ich bald verstehen.

Sechstausend Schüler hat das College, die meisten leben auf dem Campus. Zwölf Jahre jung ist er, ein Kind des Wirtschaftsbooms. Basketballfelder american style. Künstliche Seen, zwischen den Instituten grüne Alleen. In der Frühe sprüht es aus Tausenden von Düsen, und während die Studenten zum Morgenappell antreten, rückt eine Schar von Gärtnern aus. Allein die Verwehungen des Sandsturms zu beseitigen dauert Tage. Vor dem Lehrerhaus, wo ich wohne, legen alte Leute Gemüsebeete an, kleine Polder, die täglich geschlämmt werden. Radieschen, Karotten, Bohnen säen sie in den Staub, da ist nicht ein Krümel Humus. Zum Schutz gegen Wind und Sonne wird eine weitere Baumreihe gepflanzt. Alles wächst rasend schnell. Kaum sind die Nachtfröste vorüber, ist Sommer. Die fleißigen Rentner sind ehemalige Bauern aus der Gobi. Auf ihre alten Tage leben sie bei ihren Kindern, die Lehrer im College sind.

Ich bin ein Alien

Jiuquan College, das sind viele Welten. Die der Studenten, auf deren T-Shirts „I love Paris“ oder „Calvin Klein“ steht. Die Welt der Pförtner, die vor ihrer Loge Peonien züchten. Es gibt die Wanderarbeiter auf der Tag und Nacht lärmenden Baustelle und die „waiguoren“, die Ausländer. Obwohl die Seidel-Stiftung schon lange Kurse für Lehrer anbietet, werden wir angestarrt wie Aliens.

Nachmittags um drei verwandle ich mich in „Lachauer laoshi“. Die Ehrerbietung, die dem „laoshi“, dem Lehrer, entgegengebracht wird, macht mich verlegen. Am Anfang jeder Stunde stellt jemand einen Satz vor, der ihm wichtig ist. Lesley wählt ein Zitat des Dichters Robert Frost, Brenda eines aus ihrem Lieblingsfilm „Forrest Gump“. Es geht um Lebensentscheidungen, Freundschaft. Erstaunlich offen sprechen sie über Privates. Etwa über ihre Traurigkeit, dass sie nur ein Kind haben dürfen. „Wir müssen dem Staat gehorchen. Sonst verlieren wir unsere Arbeit.“ Ich höre zu.

Später trieze ich sie in Phonetik. Wir kauen auf einem Lied von Katie Melua herum, Silbe für Silbe, Zeile für Zeile. Hören, Nachsprechen. Am Ende singen wir es, die englische Lyrik klingt wie ein Indianerdialekt. Draußen tobt das Collegeleben, Marschmusik, Sport in Hundertschaften. Auf dem Gelände bewegt man sich fast immer in Gruppen, im Kollektiv vom Wohnheim zur Mensa, zur Turnhalle. „My dream – China’s dream“, steht auf einer Propagandatafel. Nur in der Nacht wird der Einzelne sichtbar, da stehen Liebespaare reglos umschlungen, jedes an einem anderen Baum.

Wozu sollen die Studenten in Jiuquan College eigentlich Englisch lernen? Für die paar Ausländer in Jiuquan? Im Beruf brauchen sie es voraussichtlich nicht, die meisten werden in der Wüste Gobi bleiben. Fernreisen – ein unerfüllbarer Traum. Anscheinend ist Englisch hier eine tote Sprache, wie das Latein damals in meiner Jugend.

Baumwälle gegen den Feind

Am 1. Mai liegt das College unter einer grandiosen Kulisse. Das Gebirge ist aus dem Dunst aufgetaucht, die Fünftausender, die im Frühjahr gewaltige Wasserströme in die Wüste senden. Der Himmel ist aquamarinblau. Im College-Garten hat jemand Eselskot ausgestreut. In den Oasen um Jiuquan ist der Landbau nicht viel anders als vor meiner Haustür. 19 Mu, 1,2 Hektar, hat eine Bauernfamilie. Die Bewässerung läuft maschinell, das Pflanzen, Hacken, Ernten im Sand geht nur per Hand. Und weil die Wüste immer weiter vorrückt, sind die Kleinbauern zugleich Gardesoldaten: Sie errichten Baumwälle gegen den Feind – „grüne Mauern“, so nennt sich das Projekt, das 1978, kurz nach Maos Tod, begonnen wurde.

19 Mu, eine Kuh, zwei Schweine, fünf Schafe – von solchen Höfen stammen viele Studenten und Lehrer. Auch Jessica, Peter, Vivienne und Mary. Sie schämen sich dafür. Bis in die Stadt Jiuquan haben sie es geschafft, das ist viel. Weiter, bis in den reichen Osten Chinas, kommen sie nicht. Das System der „Hokou“, das die Freizügigkeit einschränkt, hält sie hier fest. Weder haben sie Geld noch „Guanxi“, also Beziehungen, ohne die in China fast nichts geht. Die einzige Chance zu entrinnen wäre, durch Hochleistung zu glänzen.

Im College jagt ein Wettbewerb den anderen. Schüler, Lehrer, alle werden ständig geprüft. „It’s a burden“, sagt Jessica. Eine Last, Stress total – angesichts all dessen ist ein „laoshi“ aus dem Westen machtlos. In den Stunden, die uns bleiben, sitzen wir einfach zusammen. Wir lesen Gedichte von Seamus Heaney und Leitartikel aus dem „Guardian“. Ich höre zu oder überlasse mich ihren Fragen: „Haben Sie wirklich aus Liebe geheiratet?“ Liebe ohne Vernunft ist ihnen unvorstellbar. Lesley und ihre Kolleginnen haben Männer mit Wohnung und einem guten Job gewählt. Wer nicht aufsteigt, könnte schnell abstürzen.

Nachmittage wie auf einer Insel, keine Noten, kein Ziel. Das letzte Thema werfe ich in die Runde: Familiengeschichte. Brendas Satz „Our family history is short“ werde ich nicht vergessen. Ihre Familie, sagt Brenda, das seien sie, ihr Mann und ihr kleiner Sohn. Sie sprächen niemals über frühere Zeiten. Alle nicken. Sie scheinen nicht mal die Geschichte ihrer Eltern zu kennen, die unter Mao Tse-tung aufwuchsen. Ihre Väter und Mütter haben als Kinder gehungert, in den Jahren des „Großen Sprungs nach vorn“. Diese Generation hat später in den Roten Garden sogenannte Bourgeois und Konterrevolutionäre drangsaliert, manchmal sogar die eigenen Eltern. Eines Tages werden meine Schüler danach fragen, da bin ich mir sicher.

Nach zwei Wochen: Abschied in der Karaoke-Bar. Es wird ein wildes Singen, Schmettern, Grölen. Schafhirten und Tiger und Liebespaare flimmern über die Leinwand. Im Nu sind wir betrunken vom Baijiu. Lesley entdeckt im Repertoire ein Beatles-Lied: „Let it be. Let it be-e, let it be-eee, let it be.“ Es klingt wie ein Wolfsrudel in der Wüste.

Autorin Ulla Lachauer, geboren 1951 in Ahlen/Westfalen, lebt in Stuttgart. Sie arbeitet als freie Autorin, Journalistin, Dokumentarfilmerin – und zuweilen als Englischlehrerin in der chinesischen Wüste.