Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot. Sie starb am Donnerstag im Alter von 82 Jahren in Berlin, wie der Suhrkamp Verlag mitteilte.

Berlin - Im Jahr 1965 sagte die DDR-Regierung der schlechten Stimmung im Volk den Kampf an. „Skeptizismus“, verkündete Parteichef Walter Ulbricht, gefährde den sozialistischen Aufbau und werde nicht länger geduldet. Also weg mit den Büchern und Filmen, in denen eine junge Generation von Künstlern sich anschickte, den DDR-Alltag realistisch und kritisch zu beleuchten! Vor dem Donnergrollen aus dem Politbüro zogen die Intellektuellen die Köpfe ein; allein eine vielversprechende Nachwuchsschriftstellerin wagte es, auf dem elften Plenum des Zentralkomitees der SED den herrschenden Genossen zu widersprechen.

 

Nach einer rituellen Liebeserklärung an den Arbeiter- und-Bauern-Staat stritt sie für die zarten Pflänzchen einer poststalinistischen Kunst: „Man darf nicht zulassen, dass dieses freie Verhältnis vom Stoff, das wir uns in den letzten Jahren durch einige Bücher, durch Diskussionen und durch bestimmte Fortschritte in der Ästhetik erworben haben, wieder verloren geht.“

Ende der Parteikarriere

Christa Wolfs Parteikarriere war damit beendet, sie wurde alsbald aus der Liste der Kandidaten des Zentralkomitees gestrichen. Schlimmer noch, der Inhalt ihrer Rede wurde in den Zeitungen und internen Protokollen nur verfälscht wiedergegeben. Sie erlitt eine Herzattacke und verfiel in eine Depression, die eine klinische Behandlung erforderte. Zu den auffälligsten Symptomen ihrer Krankheit gehörte eine Zeitungspsychose: Der Dichterin brach jedesmal der Schweiß aus, sobald ihr eine der zensierten DDR-Postillen unter die Augen kam.

Nach dem Untergang der DDR ist in den Feuilletons kurz und heftig darüber gestritten worden, ob Christa Wolf eine mutige oder eine eher feige Schriftstellerin war. Immerhin hatte sie das Land nicht verlassen müssen wie andere unbotmäßige Autoren, genoß statt dessen Privilegien wie die Reisefreiheit, von der die meisten Bürger nur träumten. Zugleich unterstützte sie in Ungnade gefallene Kollegen und gehörte 1976 zu den Inititatoren des Protests gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung aus der DDR. Zur Strafe setzte die Stasi die Autorin längere Zeit durch demonstrative Präsenz unter Druck: Wie unangehm das war, schilderte sie in der Erzählung „Was bleibt“, die erst nach dem Fall der Mauer erscheinen konnte.

Keine unerschrockene Kämpferin

Eine unerschrockene Kämpferin war Christa Wolf nicht, eher ein ängstlicher Mensch, aber sie hat immer wieder ihren schwachen Mut zusammen genommen, um auszudrücken, was sie für richtig und notwendig hielt. Sie blieb unbequem - für die Mächtigen und im Umgang mit sich selbst.

Ihr Schriftstellerleben in der DDR war eine Gratwanderung zwischen überlebensnotwendiger Anpassung und dem Streben nach subjektiver Wahrhaftigkeit. „Und da steht man denn vor der Frage, was einem wichtiger ist, sich selbst kennenzulernen und mit sich ins reine zu kommen oder in Übereinstimmung zu sein mit der landläufigen Meinung“, so hat sie ihren Grundkonflikt beschrieben. In ihren Prosastücken bleibt er vielfach unaufgelöst, endet tödlich für die Heldin in „Nachdenken über Christa T.“ (1969), für die romantische Dichterin Günderode in „Kein Ort. Nirgends“ (1979) oder für Kassandra (1983). Christa Wolf überlebte ihre Figuren wie Goethe seinen Werther - durch die Verwandlung der Konflikte in Kunst, mit Lebensklugheit und einer Portion Glück.

"Der geteilte Himmel" rührt an eine deutsche Wunde

Geboren wurde sie 1929 als Kaufmannstochter ein paar Kilometer östlich der heutigen Oder-Neiße-Grenze zu Polen, im damaligen Landsberg an der Warthe. Wie der Nationalsozialismus ihre Generation vergiftete, hat sie in „Kindheitsmuster“ (1976) genauer beleuchtet, als es der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR vorsah. Nach dem Zusammenbruch des Nazireiches hoffte sie auf ein neues, besseres Deutschland unter dem Banner des Sozialismus. Als linientreue Literaturkritikerin, Lektorin und Mitarbeiterin des DDR-Schriftstellerverbandes erwarb sie sich in den 50er Jahren erste Meriten im DDR-Literaturbetrieb. Nach dem Mauerbau im August 1961 machte sie sich als freischaffende Autorin selbstständig. Mit einer Erzählung über eine Liebe zwischen Ost und West erregte sie schon bald Aufsehen: „Der geteilte Himmel“ (1962/63) rührte an die offene deutsch-deutsche Wunde.

Über den ökonomisch wie moralisch maroden Zustand der DDR machte sich Christa Wolf seit den 60er Jahren wohl keinerlei Illusionen mehr, doch hatte sie die marxistische Kapitalismuskritik so sehr verinnerlicht, dass der Westen keine Alternative für sie sein konnte. „Auf verlorenem Posten Würde wahren, um Selbstbehauptung kämpfen, es lernen, ohne Perspektive und sichtbare Alternative zu leben, darum ging es, wir wußten es; wußten, daß wir nicht unangefochten aus dem Dilemma herauskommen würden, in dem wir steckten, aber vielleicht ging es ja nicht darum unanfechtbar zu bleiben (...); vielleicht ging es ja darum, einen Platz nicht zu verlassen und wenn es auch ein Platz war mit dem Rücken zu Wand“, so hat sie in einem Aufsatz über den Freund Franz Fühmann die damalige Perspektive beschrieben. Getragen fühlte sich Christa Wolf von ihren Lesern in Ost und West, sowie von einem „Netzwerk von Freundschaften, das sich über das ganze Land erstreckte und das uns leben half.“ In den 80er Jahren war sie mit ihrer Kritik an einem weltbeherrschenden Patriarchat und seiner zerstörerischen Rationalität eine Ikone von Friedensbewegten, Grünen und Feministinnen.

Herzanfall vor Aufregung

Am 4. November 1989 sprach sie vor einer Million Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz, die ein Ende der SED-Diktatur forderten. Wieder erlitt sie vor Aufregung einen Herzanfall. Noch einmal flammte die alte Hoffnung auf, auf dem Gebiet der DDR könne eine freie sozialistische Bürgerrepublik entstehen; und wurde rasch enttäuscht durch die schnelle Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik. Christa Wolf mochte sich mit der Entwertung der spezifischen Lebenserfahrungen, die man in der DDR sammeln konnte, nicht abfinden. Das wiedervereinigte Deutschland blieb ihr fremd, auch als die verletzende Debatte um ihr Verhalten in der DDR in der Mitte der 90er Jahre abebbte und Gerhard Schröder sie zu einer Lesung ins neue Kanzleramt bat.

„Sie weiß daß der Tod das einzige Erlebnis ist das sie nicht beschreiben wird“ heißt es in einem Montagetext aus den Neunzigerjahren, angeregt durch die Narkosebehandlung vor einer Operation. Christa Wolf war eine unerhört fleißige und disziplinierte Autorin, von der die Nachwelt noch einige lesenwerte Bücher erwarten darf. Ihren Nachlaß übergab sie schon zu Lebzeiten der Berliner Akademie der Künste: umfangreiche Tagebücher, unvollendete Werke und Manuskripte, die den Entstehungsprozeß der bekannten Arbeiten nachvollziehbar machen. Mit der Herausgabe einzelner Briefwechsel aus ihrer riesigen Korrespondenz hat sie selbst noch zu Lebzeiten begonnen.

Selbstentfaltung der Subjektivität

Im Jahr 2003 überraschte sie mit der Veröffentlichung von Texten, die eigentlich nicht dafür bestimmt waren, weil sie ihre Person ohne den schützenden Mantel eines „Kunst-Ichs“ zeigen: „Ein Tag im Jahr“, ihre alljährlich am 27. September protokollierten Aufzeichnungen aus vier Dekaden, dokumentiert den Alltag der Autorin, Mutter, Hausfrau, Freundin und Leserin im Wandel der Geschichte. Noch einmal beschwor sie im Vorwort die Notwendigkeit, die eigene Subjektivität ernst zu nehmen: „Dies ist ein Skandalon in einer Zeit, in der wir mit Dingen zugeschüttet und selbst verdinglicht werden sollen; auch die Flut scheinbar subjektiver schamloser Enthüllungen, mit denen die Medien uns belästigen, ist ja kühl kalkulierter Bestandteil dieser Warenwelt. Ich wüßte nicht, wie wir diesem Zwang zur Versachlichung, der bis in unsere intimsten Regungen eingeschleust wird, anders entkommen und entgegentreten sollten als durch die Entfaltung und Entäußerung unserer Subjektivität, ungeachtet der Überwindung, die das kosten mag.“

Selbstentfaltung der Subjektivität bedeutete für Christa Wolf permanente Selbstkritik, geduldige Arbeit und ein waches, mitfühlendes Verhältnis zur ganzen Welt. Ihr Leben und Werk wird auch die schnellebige Nachwelt noch einige Zeit herausfordern.

Am Donnerstag ist Christa Wolf im Alter von 82 Jahren in Berlin gestorben, wie der Suhrkamp Verlag mitteilte.