Schmerz und Leid sind für sie Illusion. Sie wenden sich an Gott und nicht an Ärzte. Ein Besuch bei den Christlichen Wissenschaftlern in Stuttgart.

Stuttgart - Er sitzt hinten in der vorletzten der penibel ausgerichteten Stuhlreihen. Die Hände im Schoß, die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. Noch sind die schnurlosen Mikrofone neben ihm ausgeschaltet. Auf den Sitzen vor ihm liegen Liederbücher in grünen Schutzumschlägen. Bilder gibt es keine in dem kargen Kirchensaal. "Das Wort soll bei uns im Mittelpunkt stehen", sagt Lutz Leverentz.

Für die Krankenkasse ist er ein Glücksfall. Für die christlichen Kirchen ist er ein schwieriger Fall. Und für viele Außenstehende ist er ein Fall für den Psychiater. Lutz Leverentz sagt, Krankheiten seien reine Einbildung. Stürzte er die geschwungene Treppe seiner Kirche hinunter und bräche sich beide Beine, würde er nicht den Notarzt, sondern Gott anrufen.

Unvollkommenheiten wie Schmerz und Leid sind nicht real


Lutz Leverentz ist Christlicher Wissenschaftler. Seine Kirche ist die "Erste Kirche Christi Wissenschaftler" in Stuttgart. Ein flacher 50er-Jahre-Bau mit hängendem Vordach gleich neben dem Marienhospital. Christliche Wissenschaftler sagen, Gott habe den Menschen perfekt erschaffen, so stehe es auch im ersten Buch Mose geschrieben: "Zum Bilde Gottes schuf er ihn." Wie aus einem Brunnen nicht süßes und salziges Wasser quellen könne, so könne auch nicht derselbe Gott das Gute und das Schlechte geschaffen haben. Nachzulesen im Buch Jakobus. Für Christliche Wissenschaftler sind Unvollkommenheiten wie Schmerz und Leid nicht real. Folglich verzichten sie auf Ärzte und Arzneien.

"Du besiegst die Krankheit, wenn du ihre Existenz verneinst", schreibt Mary Baker Eddy, die Gründerin der Glaubensgemeinschaft. Das Böse ist für sie falscher Glaube. Illusion. 1821 kommt sie als jüngstes von sechs Kindern zur Welt. Das religiöse und kränkliche Mädchen ist fasziniert von den Heilungsgeschichten der Bibel. In den USA bricht gerade die Blütezeit der spirituellen Séancen und okkulten Abendveranstaltungen an: Phineas Parkhurst Quimby heilt mit Handauflegen. Helena Petrovna Blavatsky unterhält sich mit verstorbenen Meistern. Daniel Dunglas Home schwebt im Raum.

Im Winter 1866 stürzt Mary Baker Eddy auf einem vereisten Bürgersteig. Unfähig zu gehen, vertieft sie sich in das Matthäusevangelium, Kapitel neun: die Heilung des Gelähmten. Und wird spontan geheilt, wie sie berichtet. Darauf veröffentlicht sie "Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift". Bis heute ist es neben der Bibel das wichtigste Buch der Christlichen Wissenschaft. In den Sonntagsgottesdiensten wird von einer Kanzel die Heilige Schrift und von einer anderen das Lehrbuch von Mary Baker Eddy verlesen.

"Schmerz ist anerzogen"


Wenn Lutz Leverentz über seinen Glauben spricht, sind seine Augen in die Ferne gerichtet, als suche er einen Ort, an dem man ihn endlich versteht. "Irgendwann merken wir, dass das alles nur ein Traum war", sagt er und lächelt fragend. Seine Wangen sind eingefallen, der Bart ist weiß, die Augenbrauen sind tief schwarz. In 36 Jahren Schuldienst hat er nicht einen Tag wegen Krankheit gefehlt. Einmal sei er beim Spazierengehen gestürzt und habe sich das Handgelenk gebrochen. Allein das Vertrauen in Gott habe ihm geholfen, den Bruch zu heilen. "Schmerzen sind nur ein Signal der Nerven ans Gehirn", sagt Leverentz, "Schmerz muss erst gedacht werden, Schmerz ist anerzogen." Falsche Erziehung führe zu falscher Realität. Er erzählt von einer Frau aus der Gemeinde, deren Arzt ihr unheilbaren Krebs diagnostiziert hatte. "Das war vor zehn Jahren", sagt Leverentz und zieht die schwarzen Brauen hoch.

Viertel nach sieben, Zeit für die Mittwochabendversammlung. Neben dem Gottesdienst am Sonntag zählt dieses Treffen zum Soll der Gläubigen. Eine Frau im Strickpullover betritt als letzte den Saal. Sie zieht das rechte Bein nach und nimmt in einer der vorderen Reihen Platz. Über der ausladenden Kanzel prangt der Spruch: "Gott ist Liebe". Daneben blüht ein mannshoher Strauß Gladiolen. Leverentz' Frau Heidrun hat für diesen kleinen Farbtupfer gesorgt.

Als der Organist sein Spiel beginnt, sind 18 von 300 Plätzen belegt. Keiner der Besucher ist jünger als die elektronische Orgel aus dem Jahre 1971, viele haben noch die Gründung der Kirche 1958 miterlebt. "Früher waren wir mehr", sagt Heidrun Leverentz und lächelt entschuldigend. Ihre Stuttgarter Gemeinde hat heute rund hundert Mitglieder, "aber nicht alle sind aktiv". In Deutschland gibt es rund 2000 Christliche Wissenschaftler; weltweit sind es 400.000.

Mit warmer Hörbuchstimme liest eine Sprecherin hinter der Kanzel das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus aus der Bibel und zitiert im Anschluss aus dem Handbuch Mary Baker Eddys. Zum Gesang erheben sich die Christlichen Wissenschaftler. Doch die Stimmen der im Raum versprengten Gemeinde kommen nicht an gegen die Orgel aus der hintersten Reihe. Einzig beim Vaterunser füllen die Stimmen das lachsfarbene Kirchenschiff.

Die kleinen Geschichten des Alltags


Höhepunkt der einstündigen Feier ist die Zeugnisabgabe. Ein Mann mit grauen Haaren und schwarzem Hemd erhebt sich, bekommt ein Mikrofon gereicht. Mit viel Liebe zum Detail schildert er einen Ausflug in Badeschuhen, bei dem er von einer Biene zwischen die Zehen gestochen wurde. Mit Gottes Hilfe, erzählt er, habe er die aufkommende Angst überwinden können, und nach einem Bad im See sei der Stich geheilt gewesen. Keine Schwellung, kein Schmerz. Seinen Vortrag schließt er mit den Worten: "Ich bin sehr dankbar für die Christliche Wissenschaft." Der Mann nimmt wieder Platz, die Leserin am Pult bedankt sich.

Es sind nicht immer die spektakulären Fälle, die hier vorgetragen werden. Fälle wie der von Friedrich Preller aus Berlin, dessen verkürztes Bein durch Beten und den richtigen Glauben angeblich um zehn Zentimeter auf Normalgröße nachwachsen konnte. In der Stuttgarter Kirche geht es um die kleinen Geschichten des Alltags.

Ein Mann mit grauen Haaren und braunem Hemd erzählt, wie er eines Tages durch Hilferufe im Wald zu einem Bauern geführt wurde, der von seiner Leiter gestürzt war. Der Christliche Wissenschaftler konnte den Mann beruhigen und einen Notarzt rufen. Ein anderes Mal war er für seinen Nachbarn zur Stelle, der in seinem Haus verunglückt war. Mit Gottes Hilfe, erzählt er, fand er den vom Nachbarn versteckten Schlüssel und konnte den Gestürzten versorgen. Sein Fazit: "Gott braucht uns da, wo wir gerade sind - sonst wären wir nicht da." Auch er ist sehr dankbar für die Christliche Wissenschaft und setzt sich.

"Bei uns kann jeder mitmachen"


Was für Außenstehende wie belanglose Zufälle aussehen könnte, ergibt für die Christlichen Wissenschaftler ein Gesamtbild. "Bei mir sprengt das die normale Zufallsverteilung", sagt Lutz Leverentz, der Mathematik und Physik an einem Gerlinger Gymnasium unterrichtete. "Ob wir eine Sekte sind, kommt auf die Definition des Wortes an", sagt der 68-Jährige nach dem Gottesdienst, "jedenfalls klammern wir unsere Mitglieder nicht, und bei uns kann jeder mitmachen." Gegen Ärzte hat er nichts: "Ein anständiger Arzt ist mir lieber als ein schlechter Christlicher Wissenschaftler." Seine Frau nickt. Leverentz ist Christlicher Wissenschaftler in der dritten Generation.

Für die evangelische Kirche zählt die Glaubensgemeinschaft zu den "minder konfliktträchtigen Organisationen" und wird als "nicht gefährlich" eingestuft. "Das sind oft gebildete Menschen, mit denen man gut reden kann", sagt Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Nur der "grenzenlose Heilungsoptimismus" bereitet ihm Sorge. Eine Zusammenarbeit sei aus theologischer Sicht ganz ausgeschlossen. Schon, weil die Christlichen Wissenschaftler die Dreifaltigkeitslehre ablehnten.

Er verschwende seine Zeit nicht damit, sich eine falsch konstruierte Welt vorzustellen, sagt Lutz Leverentz. Gott habe ihm ein klares Regelwerk gegeben, er halte sich daran. Fertig. Aus der Krankenversicherung ausgetreten ist er nicht. "Das ist ein Luxus, den ich mir gönne", sagt er und zieht seine braune Übergangsjacke an, "ich vertraue Gott, aber ich kann ihm nichts vorschreiben." Auf Medikamente zu verzichten, sei kein Gebot der Christlichen Wissenschaftler - aber eine logische Folge ihres Glaubens. Abgefallen davon ist Lutz Leverentz nur einmal. Es passierte vor ein paar Jahren, als er "Nierensteine auf natürlichem Wege gebar". In seiner Not schluckte er eine Schmerztablette. Danach tat es zwar nicht mehr so weh, aber noch Tage nach der Einnahme habe er den vernebelnden Einfluss der Tablette auf seinen Geist gespürt, sagt er. Damals war er einfach nicht stark genug. Es soll nicht wieder vorkommen.