Claire haben am Sonntagabend in Stuttgart gespielt.  Post Pop nennt der Pressetext ihre Musik, und dahinter verbirgt sich ein wilder Stilmix. Im Zentrum des Abends stehen aber Josie-Claire Bürkle und ihr Schopf, den sie wild durch die Luft wirft.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Claire haben am Sonntagabend in Stuttgart gespielt. Nur - was für eines? Also, wie nennt man diese Musik? 

 

Als “Post Pop” wird die Musik von Claire im Pressetext beschrieben. "Post" wird dabei nicht nur im Sinne von "nach etwas kommend" verwendet, sondern eben auch als Haltung, sozusagen als aufgeklärter Standpunkt. Für das Genre "Post Pop" im Allgemeinen und die Musik von Claire im Besonderen heißt das übersetzt: Ja, wir machen Pop. Aber wir wissen, was es sonst noch alles gegeben hat seit den ersten, reinrassigen Pop-Acts.

Jetzt ist der Begriff “Pop” eh schon schwammig. Diedrich Diederichsen hat ein gewaltiges Buch “über Pop-Musik” geschrieben, aus dem er am Donnerstag in Stuttgart lesen wird; schon nach der Lektüre der ersten 20 Seiten wird jedem, der nicht in Kulturwissenschaft promoviert oder wenigstens vergleichbar viel Literatur zu dem Thema gelesen hat, leicht schwindlig. Denken wir in diesem Fall bei “Pop” mal an die Hits von Cindy Lauper (“Time After Time”, “Girls Just Want To Have Fun”), an Madonna oder Abba. Also an Pop nicht im Diedrich-Diederichsen-Sinn, sondern in der radiotauglichen Ausprägung. Und dazu jetzt noch das “Post”. Dann ist man bei Claire. Ungefähr.

Wilder Stilmix

Der beim Stuttgarter Konzert vom Sonntagabend stimmige, bei zurückgelehnter Betrachtung aber doch recht wilde Stilmix von Claire bedient sich all der Genres, mit denen man derzeit bei Menschen, sagen wir, unter 30 punktet. Zunächst wären da an Moderat angelehnte melodische Electronica: gerader Beat, darüber synkopische Akkorde, introvertierte Gesangslinien. Außerdem synthesizergetriebener 80er-Jahre-Pop im Stile der oben genannten Künstlerinnen. Und, tatsächlich: Hip Hop.

All das kann Josie-Claire Bürkle, und noch viel mehr. Auf einem Newsportal für das Allgäu ist dokumentiert, dass Xavier Naidoo höchstselbst ihr bei einem Casting für “The Voice of Germany” geraten habe, sich eine Band zu suchen. Solo kam sie nämlich nicht weiter. Ende 2011 war das. Also schloss sie sich 2012 drei Münchner Produzenten an, und wenig später war der beschriebene Claire-Sound im Kasten. Interneterfolg, Plattendeal, Tournee.

An Josie-Claire Bürkle ist faszinierend, wie viel von ihr man im Netz sofort findet: ihren ersten selbst geschriebenen Song zum Beispiel, oder unglaublich viele Bilder auf ihrem Facebook-Profil. Das zeigt uns: Diese Dame will ins Showgeschäft - ob man darunter jetzt Modeln versteht, einen Auftritt bei The Voice of Germany oder eben das Bandprojekt Claire.

Nach dem Erfolg beim Popnotpop zum zweiten Mal da

Im November 2013 luden die Popnotpop-Leute die Band erstmals nach Stuttgart ein. Das kam so gut an, dass sie es - wie bei vielen anderen Acts davor - jetzt mit einem separaten Gig versuchten. Statt Samstagabend im (mittlerweile geschlossenen) Rocker 33 holten Andreas Puscher und Co. die Münchner Band jetzt an einem Sonntagabend in die Wagenhallen: doppelte Kapazität, aber auch Auftakt zum zweiten Teil der Tour für das erste Album “The Great Escape”.

Das Experiment ist halb geglückt. Ungefähr 400 Menschen sind in die Wagenhallen gekommen; sie halten zur Bühne einen kleinen Sicherheitsabstand, lassen sich aber von Claire einnehmen. Die Gruppe ist gut eingespielt, der Sound ist ausgewogen: viel Synthesizer, druckvolles Schlagzeug; die Gitarre von Florian Kiermaier kann auch mal laut und KIermaiers zweiter Gesang passt auch gut.

Die Performance ist aber natürlich auf Josie-Claire Bürkle zugeschnitten. Ihre Gesangsstimme ist viel tiefer als das, was die zahlreichen Ansagen erwarten lassen. Ihr Schopf ist der längste, der bisher auf der Wagenhallen-Bühne geschwungen wurde, und man merkt, dass diese junge Frau ihre langen Haare oft schwingt. Das sieht toll aus, und es folgt garantiert immer ein strahlender Blick ins Publikum. Klaro, wer erst bei The Voice of Germany rausfliegt und jetzt stattdessen mit Liveband eine Extrarunde durch Deutschland drehen darf, der kann sich freuen.

Man nimmt ihr das ab

Man nimmt der Frontfrau das alles ab. Pop hat eigentlich viel mit Inszenierung zu tun, und natürlich wird da eine gut durchdachte Show geboten. Aber eben weil man so leicht so viel über Josie-Claire Bürkles sonstiges und früheres Leben erfährt; weil (weil Tourauftakt) die Pausen zwischen Ansage und darauffolgendem Song eine halbe Sekunde zu lang sind; weil aus der Show-Mimik immer wieder auch mitten im Song die strahlende Freude über den Moment durchbricht, wähnt man sich als Zuhörer bei diesem Konzert nie in einer künstlich geschaffenen Pop-Scheinwelt. Das ist der Unterschied zu, sagen wir, einem Konzert von Kraftwerk oder dem, was Moderat zumindest während ihrer Songs an Illusion erschaffen.

Das ist wahrscheinlich das “Post” in Claires Post Pop; zumindest, was die Inszenierung angeht: dass man gar nicht mehr versucht, dieses abgebrühte Publikum mit Show-Mitteln zu überwältigen, weil es eh nicht gelingen würde. Musikalisch wird der bereits angesprochene Stilmix derweil zumindest konservativ gesinnten Zuhörern mit Sicherheit zu viel sein: Wenn binnen Augenblicken aus Electropop Hip Hop wird, sich die Chansonnière mit der rauchigen Stimme in eine Kurzzeit-Rapperin verwandelt, wenn Powerchords in Pet-Shop-Boys-Melodien übergehen: dann ist das, ganz nüchtern betrachtet, ziemlich anstrengend. Auch wenn es viele da abholt, wo sie musikalisch anno 2014 stehen: Post Pop eben; da, wo alles kann, aber nichts muss.

Am Ende des Abends ist klar, was davor niemand verschwiegen hat: dass Claire ein Produzentenprojekt ist; eine Gruppe, die sich für diesen speziellen Sound zusammengetan hat. Ein sehr zeitgenössischer Sound, den man so oder so ähnlich derzeit häufiger hört: elektronische Musik mit Bandelementen, also schon vom Setup her eine Mischung aus zwei bis vor wenigen Jahren weitgehend getrennten Sphären. Post Pop, ob von Claire oder anderen, ist heute. Man darf gespannt sein, was danach kommt.