Das Stuttgarter Climax ist mehr als ein Club. Es ist ein Codewort für Kontrollverlust. Ein Treffen mit dem Betreiber Michael Gottschalk.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Muskelshirts müssen nicht nach deutschem Urlauber auf Mallorca schmecken. Muskelshirts sind auch nicht zwangsläufig Feinripp in Weiß. Hipster – also die jungen Extravaganten – haben Muskelshirts für sich entdeckt, sprechen von Tanktops und tragen sie in Farbe, soweit man das an einem Sonntagmorgen um 5.30 Uhr auf dem Dancefloor des Stuttgarter Clubs Climax erkennen kann.

 

Das Climax ist der Hades des Hedonismus in dieser Stadt, das Codewort für Kontrollverlust. Wenn alle anderen Läden schließen, der Weg nach Hause aber keine brauchbare Option darstellt, genügt dieses eine Wort, um müden Ausgehern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Der Satz „Komm, wir gehen noch ins Climax“ hat immer eine Metaebene. Das Morgen und auch das Übermorgen ist egal, wenn dieser Satz erklingt. Fallen diese sechs Worte, geht es nur darum, die Flucht aus dem Alltag noch ein bisschen auszudehnen.

Im Climax ist es düster. So düster, wie es in einer anständigen Unterwelt sein muss. Der Laser zuckt in einer fantastischen Abstufung verschiedener Blautöne, zwischendrin flammen weiße Blitze. Nein, dieses ulkige Farbspiel ist nicht der Tatsache geschuldet, dass der Beobachter womöglich illegale Substanzen konsumiert hat. Die irren Farben liegen an der Qualität der Lichtanlage, die zum Besten gehört, was diese Stadt zu bieten hat.

Das Climax hat immer auch etwas Varietéartiges

Die eingangs erwähnten Hipster tanzen auf einer kleinen Empore vor der DJ-Kanzel, zum Tanktop trägt man eine Truckercap. Zwischen Dancefloor und Bar treffen sich Stuttgarter Gastronomen, die im Keller in der Calwer Straße ihren Feierabend begehen. Hier der Chef einer Trattoria, dort der Sohn einer fabelhaften italienischen Wirtin, und an der Bar prosten sich zwei DJs, die von ihrer Schicht kommen, mit Schnaps zu. Hinter der Bar wippt eine Rollstuhlfahrerin im Takt der House Music, aus dem Nebel tauchen plötzlich zwei Männer mit angeklebtem Schnauzbart und Melone auf. Das Climax hat immer auch etwas Varietéartiges. Dieser Ort ist ein Kaleidoskop der Ausgehkultur, ein absurder Abenteuerspielplatz für Menschen, die es mit dem Erwachsenwerden nicht eilig haben.

In der obersten deutschen Fernsehunterhaltungsliga, dem „Tatort“, nennen Ermittler einen Club wie das Climax gerne „Zappelbunker“. Kleinbürger vermuten hinter solch einem Schuppen Sodom und Gomorrha, weil sie Andersartigem per se misstrauen. Wer sich dem Dreisatz des Spießbürgertums widersetzt – Heiraten, die Gene weitergeben und ein Haus in Heumaden kaufen –, ist verdächtig.

Wer solch einen Unort führt, der muss ein Koksbaron sein. Oder wenigstens „Wetten, dass . . ?“ am Samstagabend nicht gut finden. Michael Gottschalk heißt zwar so ähnlich wie das ehemals moderierende Goldbärchen, das nun durch einen Langweiler ersetzt wurde, hat daneben mit deutscher Fernsehunterhaltung aber gar nichts am Hut. Gottschalks Samstagabendshow beginnt später und geht länger. Vor 2 Uhr ist das Climax selten voll. Wenn der Chef um 8 Uhr morgens das Licht anknipst, flehen ihn 200 Menschen ganz unterschiedlichen Alters an, er möge die Sendezeit noch ein klein wenig überziehen.

Ein technikverliebter Riese

Gottschalk hat den Club vor 16 Jahren gegründet. In der Gastronomie zählen Jahre doppelt, sagt man. Im Nachtleben muss man dagegen den Faktor drei wählen, um auf das tatsächliche Alter zu kommen. Da scheint es nur logisch, dass das Climax noch den ganzen Oktober über Geburtstag feiert.

Wenn man Michael Gottschalk zum Gespräch bittet und als Ort des Treffens seinen Club vorschlägt, versucht er abzuwiegeln. Denn eine weitere Nightlife-Weisheit besagt: Schau dir die Spielwiese deines ganz persönlichen Eskapismus niemals bei Lichte an. Wir wollten es aber nicht anders. Ohne Laser und zuckende Leiber wirkt das Climax wie ein Verlies nach geschlagener Schlacht. Leere Flaschen stehen neben dem Dancefloor, die weißen Kacheln an der Wand sind einem nachts noch nie aufgefallen. „Die Bar machen wir jetzt ganz neu, den Boden will ich auch erneuern, und in Sachen DJ-Pult werden wir ebenfalls den nächsten Schritt machen.“

Michael Gottschalk inspiziert sein Reich. Der Clubbesitzer ist über zwei Meter groß, bringt 120 Kilo auf die Waage, hat Schuhgröße 47, trägt Brille und eine mönchsartige Tonsur, die er blond gefärbt hat. In seinem Blaumann sieht er aus wie ein Techniker, der bei der Post arbeitet, aber sicher nicht wie der Betreiber eines mythisch verklärten Clubs in der Innenstadt. Das mag daran liegen, dass Michael Gottschalk tatsächlich als Systemtechniker bei der Post arbeitet, Vater einer zehnjährigen Tochter ist, über ein unglaubliches Technikwissen verfügt und nebenbei Sport treibt. Gottschalk scheint mehr Zeit zur Verfügung zu haben als andere.

Auffangbecken für nächtliche Streuner

Das Gespräch mit ihm wird dann doch ins Freie verlegt. So ein leerer Club drückt irgendwie aufs Gemüt. Zum Espresso bei einem der austauschbaren Nobelitaliener in der Calwer Straße erzählt er seine Geschichte, die auch ein Stück Stuttgarter Nachtleben darstellt. Angefangen hat er 1988. „Damals war ich privat im Litfass unterwegs“, sagt der 46-Jährige. Das Litfass war ein legendäres Auffangbecken für nächtliche Streuner am Schwabenzentrum, als solche Auffangbecken noch rar gesät waren. „Der Sohn vom Wirt Ali fragte mich, ob ich nicht an der Tür arbeiten will.“

Das Litfass hatte damals eine ähnliche Funktion wie das Climax heute. Man traf sich dort, weil kein anderer Laden länger aufhatte. „Danach arbeitete ich im Unbekannten Tier und im Universum an der Türe“, erzählt Gottschalk. Im Uni, damals noch in Vaihingen beheimatet, organisierte Gottschalk erstmals auch Veranstaltungen. Dann ging alles recht schnell: Gottschalks Partys wurden größer, er holte bereits 1991 den Star-DJ Sven Väth nach Stuttgart, organisierte Partys mit Namen wie „Orgasmodrome“ im LKA, eine Fetischparty, die ihm überregionales Interesse bescherte.

Anfang der 90er veranstaltete Gottschalk illegale Raves auf dem Monte Scherbelino. „Bei unseren Bergpredigten musste immer unten einer, der eines der ersten Handys der Stadt hatte, Schmiere stehen. Wenn die Polizei vorbeifuhr, machten wir oben die Musik leiser.“ Wenn Gottschalk solche Schnurren erzählt, feixt er sein Gegenüber herausfordernd an. Hier hat einer nach fast 25 Jahren Subkultur immer noch den Schalk im Nacken. Kein Wunder bei der Nachtlebenbiografie. Gottschalk zeichnete für einen illegalen Club im Hallschlag verantwortlich – „das 4307 gab es leider nur wenige Wochen“ – und gründete schließlich gemeinsam mit Peter Reinhardt, dem legendären Röhre-Betreiber, der bis heute am Climax beteiligt ist, 1996 das Institut, das der Club bis heute als Namenszusatz trägt.

Absurde Wattzahlen

Die erste Location des Climax befand sich in der Friedrichstraße. „Mit der Suite waren wir damals einer der ersten Läden an der heutigen Ausgehmeile“, erzählt Michael Gottschalk. 2004 zog man in die Calwer Straße in einen Keller, der bis dahin das nicht minder legendäre Red Dog der Brüder Ali und Basti Schwarz beherbergt hatte.

Wenn Gottschalk in alten Zeiten schwelgt, wird immer auch der technische Wandel zum Thema. Seine Anlage gilt als State of the Art in der Stadt, der Sound ist kristallklar, „obwohl der Keller wirklich nicht leicht zu beschallen ist“. Der Clubbetreiber und DJ kann sich stundenlang über technische Details auslassen, spricht von Elektroilluminationsfolien, die er als Erster verwenden will, und von absurden Wattzahlen, die man sich kaum vorstellen mag. Auch die Discjockeyausrüstung habe sich verändert. „Heute kommen vermehrt DJs nur noch mit einem USB-Stick.“ Vorbei die Zeiten, in denen die Plattenleger mit einem Übergepäck an Vinyl anreisten.

Wellness begleitet von House Music

Für die lokale Musikschulung übernimmt das Climax eine wichtige Funktion als Ausbildungsort. Einige Stuttgarter DJs hatten hier ihren ersten Resident-Job, also so etwas wie eine Festanstellung. Gottschalk selbst legt auch noch auf, einmal im Monat. Der vielschichtige Riese ist in seinem Institut eher für die sanften Klänge zuständig: „So wie es früher keinen Platz rechts von der CSU gab, gibt es heute niemanden, der im Climax noch weicheren Handtaschen-House auflegt als ich.“ Bei diesen Worten lacht er, den Satz meint Gottschalk aber sehr wohl ernst.

So ernst, wie man auch eine durchtanzte Nacht im Climax nehmen sollte, die nichts anderes ist als Wellness begleitet von House Music. „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“, lautete einst das Motto einer Zeitschrift. Eigentlich schon. Aber jetzt noch nicht. Vorher gehen wir lieber noch einmal ins Climax. Abtauchen ins Varieté der Uneitelkeiten.