Die prächtige französische Comicreihe um die kleinen Gehilfen von Sherlock Holmes wird von Band zu Band besser. Die Probleme der kindlichen Helden werden dafür immer größer.

Stuttgart - Drei Kinder? Und eine kleine Katze? Als Ermittlerteam, als Gehilfen von Sherlock Holmes, und das auch noch in einem Comic? Ja, das klingt in vieler Leute Ohren bestimmt wie die ganz versimpelte Leselern-Variante der Sherlock-Holmes-Geschichten. Aber weit gefehlt: Die französische Comicreihe „Die Vier von der Baker Street“ bietet wie die TV-Serie „Sherlock“ eine ebenso faszinierte wie faszinierende Auseinandersetzung mit der Welt von Holmes.

 

Die Baker Street Irregulars bilden kurz mal erwähntes Randpersonal der Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle.. Der Meisterdetektiv hält sich Laufburschen und Informanten, die sich nicht wie er erst verkleiden müssen, um sich in den ärmeren Vierteln der Stadt umzutun. Holmes’ Gehilfen sind dort zuhause: Straßenkinder, die vermutlich, wenn Holmes nicht gerade einen Auftrag für sie hat, auf der anderen Seite des Gesetzes über die Runden kommen müssen.

Lebensgefährliche Kleinaufträge

In den Comicbänden des Zeichners David Etien und der Autoren J.B. Dijan und Olivier Legrand müssen der irische Dieb Tom, das als Junge verkleidete Mädchen Charlie und der an bürgerlichen Bildungswerten interessierte Billy ziemlich selbstständig agieren. Holmes erlebt gerade anderswo seine kanonischen Abenteuer und hinterlässt den Baker-Street-Gören allenfalls kleine Aufträge. Die können sich allerdings schnell zu lebensgefährlichen Unternehmungen auswachsen.

Im ersten, auf Deutsch 2010 erschienenen Band, „Das Geheimnis des blauen Vorhangs“, in dem es um die Verschleppung eines jungen Mädchens in ein Bordell geht, ist die Geschichte kaum mehr als ein Vorwand, um zu Bildern zu kommen. Erst über die folgenden Bände hinweg schließen die Stories näher zu den Zeichnungen auf. Aber was für Zeichnungen das vom Fleck weg sind!

Sufftrubel und Slumlöcher

Das Macher-Trio entwirft mit großer Lust detaillierte Ansichten des alten London, schwelgt im drängeligen Treiben auf den Straßen, genießt den Sufftrubel der Kaschemmen und erweckt auch das marode Slumloch-London der kleinen Leute noch einmal zum bedrückenden Leben.

Der Gefahr allzu kontemplativer, wenn auch durchwimmelter Stadtbesichtigung begegnet Etien gern mit gewagten Kombinationen der Blickachsen. Die Wahl und den Wechsel der Betrachterposition würden wir so nicht immer erwarten. Nicht selten sind die Helden irgendwo nur recht klein im Bild. Auch stehen die Sprechblasen gerne mal näher bei einer anderen Figur als bei der gerade Sprechenden.

Dank dieser kleinen Irritationen bekommen wir ein Gefühl dafür, dass diese Kids nicht die heimlichen Herren der Großstadt sind, sondern ganz schnell von ihr auf Nimmerwiedersehen verschluckt werden könnten.

Am meisten Widerstand gegen die bloße Stadtansicht leistet allerdings die unglaubliche Dynamik der Figurenposen: Etien zeigt Körper in Bewegung, als wolle er in jedem Individuum die Energie der Stadt ausdrücken. Und die ist bekanntlich ein zentrales Motiv der Sherlock-Holmes-Geschichten von Conan Doyle.

Unschuldsreste in der großen Stadt

Nur auf den ersten Blick scheinen die kleinen Detektive ein Trupp Rotzgören zu sein, dem in der Welt solch eines Comics nichts Ernsthaftes zustoßen kann. Um ihren Rest Unschuld und Gutherzigkeit herum, der oft mit ihren Überlebensinstinkten im Streit liegt, erstreckt sich eine brutale, von vielen Sozialschäden und strukturellen Ungerechtigkeiten geplagte Stadt.

So viel Schutz wie eine Straßenkatze

Hier unterwandern zum Beispiel Geheimpolizisten russische Exilantenkreise und legen Bomben mitten in der Stadt; hier schlachtet ein Nachfolger von Jack the Ripper Menschen ab; hier ist es nicht nur heitere Pausenclownerie, wenn wir immer wieder das Katerchen Watson auf der Flucht sehen. In Relation zu dem, was in diesem Moloch vorgeht, sind auch die Baker-Street-Kids kaum mehr als eine weitere Straßenkatze: Wem sollte ihr Verschwinden schon auffallen?

Im neuesten, vierten und bislang grimmigsten Band, „Die Waisen von London“, ist Holmes vermeintlich tot. Die Nachrichten von seinem Kampf mit dem Erzschurken Professor Moriarty füllen Londons Zeitungen. Das verwirrte Straßenkinderteam übersteht die Debatte zunächst nicht, was denn nun werden solle.

Spitzel oder Schutzengel?

Etwas kommt in diesem Band zum Abschluss, ein großes, mehrbändiges Auftaktkapitel. In dem hat immer wieder die Hoffnung eine Rolle gespielt, kompetent erledigte Aufträge könnten den kleinen Detektiven Respekt und Sicherheit unter den Fittichen des großen Sherlock Holmes einbringen.

Die Kinder merken nun, dass sie ohne Holmes klarkommen müssen, aber auch, dass sie ihre internen Konflikte nicht gelöst haben. Der Zwist beginnt schon mit der Grundsatzfrage, ob sie eigentlich Gauner sind, die gelegentlich andere Gauner bespitzeln und verpfeifen, was perspektivlos wäre, oder selbst ernannte Schutzengel der Hilflosen, wozu ihnen aber das ökonomische Fundament fehlt.

Ein fünfter Band der Reihe ist angekündigt, auf den man sehr gespannt sein darf. Bis dahin werden die bislang erschienenen Alben jeden Neuleser wohl dazu verführen, auch mal wieder Arthur Conan Doyles Originale aus dem Regal zu holen.

J.B. Dijan, Olivier Legrand, David Etien: „Die Vier von der Baker Street, Band 4: Die Waisen von London“. Comic, aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld. 56 Seiten, 13,80 Euro.