Er ist brutaler als andere Comicstars, zynischer, aber vielleicht auch schlauer: Deadpool nimmt die ganze Superheldenwelt nicht ernst. Sein erster Großauftritt im Kino wird denn auch eine vergnüglich verwirrende Angelegenheit.

Stuttgart - Der handelsübliche Superheld trägt ein gutes Herz unter einem knallbunten Kostüm. Allenfalls verbirgt er unter einem dunklen Kostüm den verbissenen Vorsatz, dem Licht zum Sieg über das Dunkel zu verhelfen, so wie Batman. Der täuschend genretreu in einem rot und blau gefärbten Gymnastikanzug mit Vollmaske auftretende Deadpool ist ein wenig anders. Unter seinem kecken Kostüm wabert das moralische Chaos. Der Mann ist ein Killer, ein Zyniker, ein Nihilist. Er schert sich wenig um Fairness und fühlt sich keinesfalls für den Schutz der leidenden Allgemeinheit zuständig. Er arbeitet als Auftragsmörder.

 

Dass man ihn trotzdem nicht den Superschurken zurechnen muss, verdankt die Welt vermutlich Deadpools irritierendem Sinn für Humor. Er findet Großverbrecher genauso lächerlich und nervtötend wie Superhelden, was letztlich dazu führt, dass er sich in wüstes Treiben stürzt, aus dem dann doch Gutes hervorgeht. So zeigt ihn auch die erste Hollywood-Produktion, in der er im Mittelpunkt steht.

Wenig Plot, viel Action

Der Plot von „Deadpool“ könnte, wenn man ihn mit Zuckerwasser auf eine Glasplatte schriebe, keine Fruchtfliege zehn Minuten lang satt halten. Deadpool (Ryan Reynolds) gerät mit dem Superfiesling Ajax (Ed Skrein) aneinander, der seine Ex-Freundin (Morena Baccarin aus „Homeland“) entführt. Rückblenden zeigen, wie weit die Feindschaft zurückgeht, und liefern die Ursprungsgeschichte, wie aus Wade Wilson Deadpool wurde. Unheilbar krebskrank, machte Wilson beim Mutationsforschungsprogramm einiger zwielichtiger Typen unter Leitung von Ajax mit, das sich als wahrer Folterparcours erwies.

Aber man schaut sich Superheldenfilme ja nicht wegen des Plots an. „Deadpool“ beginnt mit einer jener 3-D-Sequenzen, in denen sich die virtuelle Kamera durch eine eingefrorene Welt bewegt. Die begehbare Fotografie zeigt den Höhepunkt einer Action-Eskalation, die Fahrt der Kamera provoziert die Zuschauer damit, dass zunächst nur Elemente eines nicht fassbaren Bildes zu sehen sind. Ein schon schwer demoliertes Auto scheint da in der Luft zu hängen, mehrere Personen interagieren höchst gewaltsam, Waffen speien Feuer und Verderben, ein fliegendes Motorrad wird auch erkennbar. Der Regisseur Tim Miller, wen wundert’s, ist von Haus aus Spezialist für digitale Effekte und Spiele-Trailer („Halo“).

Deadpools Verrücktheiten

Es braucht eine Weile, bis sich die große Frage „Was ist da eigentlich los auf der Leinwand?“ in die noch größere verwandelt: „Wie konnte es denn so weit kommen?“ Das macht durchaus Spaß und gibt das Thema des Kinobesuchs vor. Wir müssen in der Folge versuchen, Verrücktheit zu ordnen und zu bewerten.

Aus dem Folterprogramm von Ajax hat Wilson zwar Selbstheilungskräfte mitgebracht, die Schusswunden wegputzen wie Schuhbürste Schlammspritzer, aber die Mutation hat ihn auch schlimm entstellt. Seine Deadpool-Maske dient nicht nur der Anonymität. Und vielleicht spiegelt die äußere Verwüstung die innere. Man hält Deadpools Drohen und Höhnen so lange für lustiges Macho-Gehabe, bis man ihn im Kampf sieht. Der Kerl, der Schusswaffen, Granaten und Samuraischwerter nutzt, köpft, durchlöchert und zerfetzt seine Gegner. Und hat gleich wieder einen Spruch auf Lager.

Die vielen Seiten eines Psychopathen

Man kann Tim Millers Film also hinter der Maske der Gaudi für eine der schrecklichsten Comicverfilmungen Hollywoods halten. Man kann ihr alternativ bescheinigen, sie überdrehe Gewalt und Protzgehabe so, dass jede Verwechslung mit der Realität ausgeschlossen sei. Man kann ihr aber auch unterstellen, sie gehe übers Schenkelklopfen und Augenzwinkern hinaus, zeige das harmlos Absurde der Kinogewalt, aber zugleich das Psychopathische moderner populärer Helden.

Echt unkomfortabel

Ryan Reynolds trägt als Deadpool wirklich eine Maske (rotschwarz statt rotblau, eine ernstere als im Comic also), die nicht glatt anliegt, sondern sichtlich die Ohren an den Kopf drückt, die Nase quetscht, vom Kiefer erst gedehnt werden muss, um das Sprechen möglich zu machen. Man soll sehen, wie unkomfortabel so eine Kostümierung wäre. Deadpool selbst kommentiert das, er weist darauf hin, er sei ein echter Superkloben, kein Poseur, der ein Kostüm als digitalen Trick angepasst bekommt. Macht das nun ihn und seine Gewalttaten realer, oder nimmt es die ganze Traumwelt der Kinosuperhelden frech auf die Schippe?

Schon der Deadpool der Hefte hat die Fans des Marvel-Universums, zu dem die X-Men, die Avengers und Spider-Man gehören, gespalten. Viele hassen ihn, weil der ständig redende, die vierte Wand zum Leser Niederreißende als Irrlicht die ganze Marvel-Welt neu ausleuchtet, ihr Pathos ruiniert. Deadpool weiß sogar, dass er eine Comicfigur ist. Andere lieben diese mit pubertärem Klamauk gemischte Ironie, für sie wird das ganze Marvel-Universum erst durch Deadpool wieder hip und erträglich im Zeitalter der abgebrühten Distanz zu allem.

Das Gift der Lächerlichkeit

Auch auf der Leinwand knackt Deadpool die Illusion einer realen, in sich geschlossenen Welt. Dass er es etwa mit den X-Men zu tun bekommt, aber stets nur deren Nebenfiguren Colossus und Negasonic Teenage Warhead trifft, kommentiert er mit dem Vorwurf an die Produzenten, sie hätten sich wohl niemand anderen leisten können.

Man kann das Phänomen Deadpool auch so interpretieren: dass er ein Superheld für die Ära völliger Selbstverliebtheit sei. Dem Kerl ist egal, ob er den Mythos des Helden ruiniert und das Gift der Lächerlichkeit in andere Filme spritzt, Hauptsache, er kommt cool rüber. Als er seinen ersten Kinoauftritt als Nebenfigur in „X-Men Origins: Wolverine“ hatte, trat er übrigens in stark verfremdeter Form und mit zugenähtem Mund auf. Vielleicht hatten die Produzenten Angst vor dem Wirken seines Mundwerks.

Deadpool. USA 2016. Regie: Tim Miller. Mit Ryan Reynolds, Morena Baccarin, Ed Skrein, Gina Carano. 109 Minuten. Ab 16 Jahren.