Der Computerkünstler Frieder Nake hält künstliche Intelligenz für ein „saublödes Wort“. In Stuttgart hat er über Präzision und Emotionen gesprochen.

Stuttgart - Wird eine Maschine je selbst denken können, je intelligent sein? Für Frieder Nake ist diese Vorstellung Humbug: „Maschinen erzeugen nur das, was wir Menschen programmiert haben.“ Der Professor für interaktive Systeme an der Uni Bremen ist zurück nach Stuttgart gekommen, um einen Vortrag beinahe an seiner alten Wirkungsstätte zu halten: Ende der 1950er Jahre hat er am philosophischen Institut bei Max Bense studiert, Anfang der 1960er Jahre schließlich die Computerkunst mitbegründet – und das eigentlich eher zufällig: Als studentischer Mitarbeiter sollte er 1963 die erste sogenannte Zeichenmaschine der damals noch Technischen Hochschule Stuttgart programmieren.

 

Der Graphomat Z64 der Bad Hersfelder Zuse AG war ein Nachfolger des Z4, des weltweit ersten kommerziell gehandelten Computers. Doch anstatt das Gerät systematisch zu programmieren (wofür er sich die Programmiersprache selbst beibrachte), legte es der junge Student darauf an, die Maschine zeichnen anstatt rechnen zu lassen – und so entstand sein Frühwerk, beispielsweise seine „Geradenscharen“, viele sich kreuzende Geraden, oder der „Zufällige Polygonzug“, in dem verschiedene Linien geometrische Formen erzeugen.

Die Zeichen haben den Pionier der Computerkunst seither nicht mehr losgelassen. „Kunst als Maschine und als Zeichen. Präzision und Emotion“ lautete der Titel seines Vortrags, den er am Dienstag zur Eröffnung der Reihe „Max-Bense-Lectures“ am philosophischen Institut der Uni Stuttgart gehalten hat. Die Lehrstuhlleiterin Catrin Misselhorn hat den Zeitgenossen ihres Vorvorgängers Max Bense eingeladen, weil sie einige Fragen an ihn hat: Computerkunst beruhe auf drei Merkmalen, führt sie ein: Berechenbarkeit, Interaktivität, Konnektivität. „Aber sind Computerkünstler dann Künstler oder Ingenieure?“, fragt sie. „Und sind die Werke Ausdruck von Kreativität?“

Berechenbare Kreativität

Die Berechenbarkeit, ja, die stehe im Zentrum der „präzisen Vergnügen“, in die Frieder Nake auch die Computerkunst einordnet, antwortet der 78-jährige Mathematiker im Vortrag. Doch warum soll Berechenbares nicht auch kreativ sein? In Stuttgart zeigt er beispielsweise zum ersten Mal seine „Hommage an Malewitsch“: ein großer Bildschirm, der zunächst schwarz ist, und der sich scheinbar zufällig mit kleinen farbigen Punkten füllt. Lange scheint es dabei zu bleiben, doch nach einer halben Stunde bilden sich farbige Rechtecke heraus. Die Hommage gilt Kasimir Malewitsch, der 1915 Werke wie „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ schuf. Nakes Rechtecke erscheinen zufällig – schaltet man den Rechner aus und erneut ein, entsteht ein ganz anderes Werk. Und dennoch ist es das Ergebnis eines Rechenprozesses. Ein bisschen führt er Malewitschs Idee damit ad absurdum. Dieser habe sein Werk als das Ende aller Bilder betrachtet, erläutert Nake, da in der Farbe Schwarz alle Farben enthalten seien und im Quadrat alle Formen. Doch die Computerkunst zeigt, wie man daraus eine unendliche Anzahl weiterer Kunstwerke kreieren kann.

1965 seien erstmals Bilder dieser neuen generativen Ästhetik, wie Max Bense sie bezeichnete, ausgestellt worden, erinnert sich Nake, und das in Stuttgart: „in der Friedrichstraße, im VW-Hochhaus – aber das heißt heute sicher auch anders“. Der revolutionäre Gedanke sei schon damals deutlich geworden: „Wie kann man es schaffen, einen Computer, der eine Maschine zum Berechnen ist, dazu zu bringen zu zeichnen!“ Er zeigt ein Werk von Georg Nees, das damals ausgestellt wurde: lauter 23-Ecke sind darauf, alle zufällig berechnet. „Das Prinzip der Wiederholung der Unendlichkeit ist hier schon angelegt.“

An der Wand des philosophischen Instituts hängt ein Bericht der Stuttgarter Nachrichten über Nakes erste Ausstellung 1965, in dem der Autor zweifelt: „Ist dann die Maschine der Künstler und der Mensch bloß noch der Programmierer?“ Das freilich hätte Frieder Nake nicht gelten lassen, denn dieses „bloß noch“ ist aus seiner Sicht das grundlegende Missverständnis unserer Zeit. Schließlich ist das der zentrale Unterschied: Menschen geben Maschinen vor, was sie zu tun haben. Das sollte man nicht mit so „saublöden Worten wie künstliche Intelligenz“ bezeichnen, findet er. „Wir können nur das erwarten, was wir vorher berechenbar gemacht haben.“

Algorithmische Revolution

Eine Anekdote aus der damaligen Ausstellung belegt das aus seiner Sicht: Der Künstler und damalige Dozent an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, Heinz Trökes, habe den damals noch unbekannten Nees gefragt, ob seine Maschine auch so zeichnen könne wie er. Nees soll geantwortet haben: „Na klar, wenn Sie mir sagen, wie Sie es machen.“ Und damit ist das Wesen des Programmierens ziemlich gut auf den Punkt gebracht: das, was eine Maschine tun soll, zu beschreiben. „Was wir explizit sagen können, was wir aus unserem Kopf herausholen können, lässt sich auf eine Maschine bringen“, sagt Frieder Nake. Deshalb sei der Begriff der „digitalen Revolution“ grundfalsch, vielmehr durchleben wir aus seiner Sicht gerade die „algorithmische Revolution“.

Diese Ideen aus unserem Kopf zu bekommen und maschinengerecht zu formulieren, dafür wiederum habe Noam Chomskys generative Grammatik die Grundlagen gelegt: Die Idee, dass sich die Sätze einer Sprache mittels eines Regelsystems generieren lassen. Nake ist überzeugt: „Ohne Chomsky gäbe es keine Programmiersprache.“ Max Bense bezeichnete die Computerkunst in Anlehnung daran als „generative Ästhetik“.

Diese Sprache der Computer müssen wir uns aneignen, findet Nake: „Auch wenn ich ein Gegner der Idee bin, an der Grundschule programmieren zu lehren.“ Da seien noch andere Dinge wichtiger. Darum herum kommen wir aber aus seiner Sicht nicht. „Wir haben schließlich auch alle lesen gelernt.“ Das sei die Gutenberg-Galaxy gewesen, jetzt stehe die Turing-Galaxy an – und mit ihr die präzisen Vergnügen. Die größte Herausforderung dieses neuen Zeitalters sei es übrigens nicht, den Maschinen das Denken beizubringen, sondern „zu lernen, so zu denken, wie eine Maschine dächte, wenn sie es könnte“.

Mitbegründer der Computerkunst

Wissenschaftler Frieder Nake wurde 1938 in Stuttgart geboren, wo er unter anderem Mathematik studierte, aber auch Vorlesungen von Max Bense in Philosophie hörte. 1958 traf er zum ersten Mal mit einem Computer zusammen, als er ein Praktikum im IBM-Rechenzentrum machte. Dort brachte er sich das Programmieren selbst bei. 1963 entwickelte er die Software für den Zuse Graphomat Z64 am Rechenzentrum der Uni Stuttgart. 1967 promovierte er in Mathematik über Wahrscheinlichkeitstheorie und wechselte 1968 nach Kanada, wo er an der University of Toronto als Assistant Professor Informatik lehrte. Seit 1972 ist Nake Professor für grafische Datenverarbeitung und interaktive Systeme an der Uni Bremen.

Künstler Frieder Nake ist Mitbegründer der Computerkunst. 1965 hatte er seine erste Ausstellung in der Galerie Wendelin Niedlich in Stuttgart. Es folgten Ausstellungen in London (1968), Zagreb (1968), auf der Biennale in Venedig (1970), in der Kunsthalle Bremen (2004) und im ZKM Karlsruhe (2004 und 2016), auf der Ars Electronica in Linz (2005) und viele andere. Werke von ihm finden sich im Sprengel Museum Hannover, in der Kunsthalle Bremen, in der Ann und Michael Spalter Collection in den USA, im Victoria und Albert Museum in London, im Tama Art University Museum in Tokio und beim ZKM in Karlsruhe.