Einst stand die Schriftstellerin Ulrike Edschmid Menschen nah, die Teil jener großen Revolte waren, die in Stammheim endete. Nun erhält sie den Cottapreis der Stadt Stuttgart.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Berlin - Als wären zwei Könige im Bad. In der großen, von Vergangenheit erfüllten Altbauwohnung in der Berliner Kantstraße liegen zwei festlich funkelnde Überwürfe, textile Kunstwerke aus tausenden kleinen Stoffstücke vernäht. Flüchtig hingeworfen erinnern die kostbaren Kompositionen aus Brokat, Samt und Seide an Gemälde alter Meister. Badende Könige wären das letzte, was man in der Wohnung der Schriftstellerin Ulrike Edschmid erwartet hätte. Doch die schönen Stücke sind kein abgelegter Ornat, sondern das Produkt einer besonderen Leidenschaft. Für die Autorin hat der Umgang mit Stoffen neben der literarischen auch eine textile Dimension. Und wie sich in ihren schönen selbstgefertigten Decken eine Vielzahl gesammelter Materialien zu einem sinnvollen Ganzen verbinden, so sind ihre Bücher aus Erinnerungen gewebt.

 

In ihrem jüngsten Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ verarbeitet sie den Stoff ihres eigenen Lebens. Es ist die traurige Liebesgeschichte einer jungen Mutter und ihres Gefährten, die von den Turbulenzen einer bewegten Zeit auseinander getrieben werden. Während sie versucht, die verwirrende Vielfalt des Lebens auszuhalten, unterwirft er sich und die gemeinsame Liebe dem Kommando einer ordnenden Idee. So könnte man die der Zeit enthobene Rückseite einer Textur beschreiben, deren markante Schauseite die große Revolte der 68er-Generation ist, die Ulrike Edschmid im politisch gärenden Westberlin in vorderster Reihe durchlebte. Philip S. gehörte einer Gruppe im Umfeld der RAF an, die von den Ereignissen zunehmend radikalisiert schließlich in den Untergrund abtauchte. Bei einer Schießerei wurden er und ein Polizist getötet. Für die Kunst der subtilen Verknüpfung ihrer privaten Erinnerungsbilder im Unterfutter der Zeitgeschichte erhält sie morgen den Cotta-Literaturpreis der Stadt Stuttgart.

Im Arbeitszimmer von Ulrike Edschmid hängen viele Fotos. Schöne junge Männer, einer davon ist der Vater ihres Kindes, der Sohn des expressionistischen Dichters Kasimir Edschmid, ein anderer Philip S., ernst, mit feinem Bart und längeren blonden Haaren, leicht unscharf. „Wenn ich ein Bild betrachte, will ich wissen, was davor und was danach war, mich interessieren die Geschichten, die darin aufbewahrt sind“, sagt die 74-jährige Autorin, deren Erscheinung ebenso von ihrem klaren, offenen Blick wie von ihrer Nähkunst bestimmt wird. Ihre Kleider schneidert sie selbst, in diesem Fall ein leicht japanisch anmutendes dunkelblaues Ensemble aus weitgeschnittenen wadenlangen Hosen und einer samtbesetzten Jacke.

Keine Erfinderin, sondern Finderin

In ihrer Erzählung „Nach dem Gewitter“ findet eine Frau Fotos am Wegrand, deren Geschichte sie zu ergründen sucht. Das entspricht ihrer eigenen Weise zu schreiben: „Ich bin keine Erfinderin, sondern eine Finderin, ich schaffe keine Figuren, sondern schaue sie mir auf meine Weise an. Was ich in ihnen sehe, würde jemand anderes nicht sehen; deshalb beschäftige ich mich nur mit solchen Figuren, die ich mit Empathie umgeben kann.“

Auch von Edschmid hängen zwei Bilder an der Wand: eines aus ihrer Zeit mit Philip S., mit nachdenklich dunklen Augen, Grübchen um einen fein geschwungenen Mund; dann ein Jugendbild vor romantischem Gemäuer. Die darin aufbewahrte Geschichte ist die einer Kindheit auf einer alten Burg in Hessen. Keine Könige, keine herrschaftliche Geschichte, eher die eines prekären Überlebens nach dem Tod des Vaters, eines umtriebigen Architekten, der in Stuttgart studiert hat und 1943 gefallen ist. Auch von ihm hängt ein Bild an der Wand, als Pilot eines Doppeldeckers.

Wie man das Recht des Lebens gegen schwierige Verhältnisse und starre Konventionen verteidigt, hat Edschmid in einer innigen Hommage an die Mutter erzählt. Die Burg war ein Zufluchtsort für Menschen, die der Krieg aus der Bahn geworfen hat. Mit selbst gewebten Teppichen hat die Mutter die beiden Kinder durchgebracht und dabei mit Mut und Fantasie ein offenes Haus gepflegt. „Dieses Hin und Her, die offenen Türen – das hat mich auf mein späteres Leben vorbereitet. Bis ich vierzig war, habe ich immer in einer Wohngemeinschaft gelebt.“

Ende der sechziger Jahre landete sie als Studentin der Literaturwissenschaft in Berlin, heiratete den Sohn von Kasimir Edschmid und hätte sich um ein Haar auch noch den Schwiegervater als Dissertationsthema eingehandelt. Die Ehe ging auseinander. Sie lernte den jungen Filmstudenten Philip S. kennen, wurde Teil des großen Aufbruchs in eine bessere Welt und gründete einen der ersten Kinderläden – all dies erzählt sie in ihrem Roman. Es ist eine Glücks- und eine Katastrophengeschichte, zugleich aber auch der Versuch, die historische Einfriedung des eigenen Lebens zu durchdringen.

Die Suche nach dem richtigen Ton

Der letzte Satz darin zitiert eine ästhetische Maxime des erschossenen Geliebten: „Dass Menschen und auch Dinge nicht dazu da seien, etwas zu beweisen, und zu bekräftigen oder eine Meinung zum Ausdruck zu bringen, und dass es für ihn nur darum gehe, ihre Gegenwart festzuhalten.“ Genau das löst ihr Buch ein, genau dagegen aber hat Philip S. gehandelt. „Er hat die Zukunft in Begriffen festgerammt und nicht mehr gesehen, was ist, sonder nur noch was sein soll“, sagt Edschmid. Trotzdem war er nicht der eiskalte Polizistenmörder, als der er in den Medien dargestellt wurde. „Das hat mich geschmerzt. Er war tot, nun sollte er auch noch der Killer sein.“ Sie stellte Fragen, die den offiziellen Tathergang in Zweifel zogen und für die juristischen Aufarbeitung des Falls nicht ohne Folgen blieben. „Ich wollte zeigen, dass es auch anders gewesen sein kann, das Leben hinter den Begriffen suchen.“

Lange, fast vierzig Jahre hat sie gebraucht, einen Ton zu finden, in dem sich das ideologiebefreit erzählen ließe. „Das musste erst in mir hochsteigen.“ Es war das Buch über die Mutter, das sie unmerklich dahin geführt hat, wo sie jetzt ist: in der eigenen Geschichte. Draußen rauscht der Verkehr in der Kantstraße vorbei. In derselben Straße lag das Frauengefängnis, in dem sie während der heißen Phase der Auseinandersetzung einige Zeit inhaftiert war.

Ulrike Edschmids miteinander korrespondierenden Texte fügen sich zu einem locker gewirkten Bild einer Epoche – einem, das ohne fest umrissene Gestalten auskommt, denn die liefert das Leben nicht. „Ich liebe an Fotos die Unschärfe, etwas muss immer offen bleiben.“ Aufgewachsen in einer Ruine, einem zerfallenden Gemäuer, ist Offenheit vielleicht der Zug, der ihren Blick auf die Welt am besten charakterisiert. Er schließt eine Treue zu sich selber ein, die die Veränderung kennt. Ulrike, erklärte ihr die Mutter einmal, bedeutet reich an Erbgut. An materiellem Besitz hat sie wenig zu verwalten. Aber sie ist reich an Erinnerungen. Das ist das Erbe, aus dem sie am Webstuhl der Zeit ihre Fäden zieht. Ihre klaren Texturen fügen zusammen, was die Geschichte zerfetzt hat.