Am 1. März 1980 eröffneten Walentin Hölscher und Sonja Specht einen Crêpesstand in der Königstraße. Zwei Quadratmeter Freiheit.

Reportage: Robin Szuttor (szu)
Stuttgart - Viertel vor zehn. Das Heizgebläse anschalten. Die Butter schmelzen. Die beiden Gusseisenscheiben auf Temperatur bringen. Den Teig vom Kanister in die kleineren Schüsseln umfüllen. Die Nougatgläser neben die warme Platte stellen, damit die Masse streichzart wird.

"Der Geruch lockt"


Wenn Walentin Hölscher um zehn aufmacht, fließt der Menschenstrom noch in die falsche Richtung - von der Bahnhofsunterführung hinauf zur Königstraße, wo man das Holzhäuschen höchstens aus den Augenwinkeln sieht. "Aber der Geruch lockt", sagt Hölscher. Außerdem kennt ihn eh jeder in Stuttgart. Fast jeder. Unlängst fing ein Mann bei einer Crêpe mit Cocosraspeln ein Gespräch an: "Und, neu hier?"

1980 stirbt Jean-Paul Sartre. Muhammad Ali verliert in Las Vegas gegen Larry Holmes in der zehnten Runde. Die Bundespost führt für Ortsgespräche den Achtminutentakt ein und Israel den Schekel als Währung. Indira Gandhi wird Premierministerin in Indien, aber Franz Josef Strauß nicht Kanzler in Deutschland. In Stuttgart registriert die Polizei eine rätselhafte Selbstmordserie, auf der Linie 40 Vogelsang-Wagenburgstraße testet man einen Doppeldeckerbus, und in der Königstraße eröffnet Walentin Hölscher mit seiner Geschäftspartnerin Sonja Specht einen Crêpesstand.

Dreißig Jahre später. Die Königstraße hat jetzt einen Belag aus Flossenbürger Granitplatten. Für Hölscher wie ein neues Wohnzimmerparkett. Die Straße sei bunter geworden: mehr Einwanderer, mehr junge Leute, viele asiatische Touristen. Bettler gebe es kaum noch, aber wieder mehr Menschen, die in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen. Die Straße sei ärmer geworden: der Luxusladen Schatztruhe, das Ambo-Kino, das Musikgeschäft Wom: weg. Ratsstuben, Stadtschänke, Tanzcafé Tabaris, Marché, Königshof: verschwunden. "Stattdessen Stehcafés und Dönerläden."

Der Crêpesstand ist geblieben, die Speisekarte unverändert. Die Mahagoniwände, das Kupferdach, die Kristallglasfenster: alles wie früher. Nur die Resopalbeschichtung der Arbeitsplatte blätterte irgendwann ab. Jetzt werden die Bananen auf Chromstahl geschnitten. Die Kundschaft ist mit dem Stand alt geworden, und es kamen viele Neueinsteiger hinzu.

Pfeffer und Zwiebeln für Pakistani


Es gibt die feinen Ladys, die ihre Crêpe vornehmlich mit Grand Marnier verspeisen, weil sie das, wie sie sagen, von ihren Parisreisen so gewohnt sind. Es gibt die schwäbischen Rentnerinnen, die sich ihre Crêpe mit Apfelmus für daheim einpacken lassen, weil man sie ja nicht einfach auf der Straße essen kann. Es gibt die Pakistani, die ihre Buchweizenfladen nur mit Pfeffer, Butter und Röstzwiebeln wollen, weil sie das aus der Heimat kennen. Es gibt die wohlerzogenen Mädchen: "Guten Tag, ich hätte gerne eine Crêpe mit Zimt und mit Zucker, bitte." Es gibt die jungen Männer mit dicken Goldketten und glänzenden Jogginganzügen, die nicht lang um den heißen Brei herum reden: "Machsch du mir Schoko!"

Wird gemacht: einen Schöpflöffel Teig - nicht zu viel, damit die Crêpe schön dünn wird - in die Mitte der Platte gießen. Das Ganze mit dem T-förmigen Crêpesrechen gleichmäßig verteilen - der technisch anspruchvollste Arbeitsgang. Nach einer gewissen Zeit wenden - "reine Gefühlssache". Nutoka drauf. Viermal falten. Die Crêpe auf Butterbrotpapier legen. Ein Blatt Küchenpapier als Serviette. "Guten Appetit."

Sechs Tonnen Weizenmehl, 50.000 Eier, und 7000 Liter Milch veredelt Hölscher pro Jahr. Nasskalte Winter sind schlecht fürs Geschäft, heiße Sommer auch. Um die Feierabendzeit und spätabends an den Wochenenden läuft es am besten. Häufig bilden sich dann lange Schlangen vor dem zwei Quadratmeter großen Stand. "Das ist der Herdentrieb", sagt Hölscher.

Es begann vor 34 Jahren mit einem Familienurlaub an der Dordogne. Auf dem Campingplatz gab es Crêpes, die drei Kinder konnten nicht genug davon bekommen. Vater Hölscher entschied schließlich, die Dinger selber zu machen und versuchte sich mit einem Teig am Campingherd. Die Kleinen goutierten seine Bemühungen.

Aus Heinz wird Walentin


Es sollten die letzten trauten Sommerferien gewesen sein. Zwei Jahre später lag sein Leben in Trümmern: die Familie war zerbrochen, seine Großküchenfirma am Ende. Und Hölscher so fertig mit seiner bisherigen Existenz, dass er alle seine Kleider der evangelischen Kirche spendete. Sogar den Namen änderte er. Eine befreundete Gebrauchslyrikerin kam auf Walentin - mit weichem W, das passe zu ihm. Heinz Hölscher war einverstanden. "Damals sagte ich mir: entweder du fängst mit dem Wermut an oder mit einem ganz anderen Leben."

Er erinnerte sich an seine Camping-Crêpes. Das war was ganz anderes im Land der Flädle, wo man sich damals noch kaum mit bretonischen Spezialitäten befasste. So wechselte er vom Großküchengewerbe in die Eierkuchenbranche. 1978 begann er mit einem Stand am Stuttgarter Rathausplatz.

"Eines Tages kam eine kleine Blonde und rief begeistert: ,Hej! Crêpes'!", erzählt Hölscher. Man plauderte und stellte fest, dass man gemeinsame Bekannte hatte, den gleichen Buchladen liebte und auch politisch auf einer Linie lag: hoffnungslos Grün. Wahrscheinlich war Sonja Specht auch hingerissen von Hölschers Gesamterscheinung, wie er da im Häuschen stand: lila Latzhose, Norwegerpulli, Zottelmähne. Sie hatte gerade ihren Job als Kauffrau gekündigt, um ihr Abi nachzumachen. "Wenn du keine Lust mehr hast, kommst du einfach zu mir", sagte Hölscher. Nicht lange, und sie stand wieder vor der Hütte: "Da bin ich."

Fortan machten er, der Westfale, und sie, "eine Stuttgarterin durch und durch", gemeinsam Crêpes. 1980 unterschrieben sie einen Vertrag mit den Gaststättenbetrieben Greiner, die seit der Reichsgartenschau 1939 das Privileg hatten, einen Straßenverkauf am Bahnhofsvorplatz zu betreiben. Seitdem backen die beiden in Stuttgarter Toplage. Heute zahlt das Duo seine Pacht an die Landesentwicklungsgesellschaft, die Stadt entscheidet nur bei der Optik des Stands mit. "Solange es die Königstraße gibt, gibt es uns auch", sagt Hölscher.

Wer Crêpes machen will, muss vorher üben


Die Geschäftsführer stehen nur noch selten in ihrem Häuschen. Der 72-jährige Hölscher kümmert sich ums Technische, die 55-jährige Specht um Organisation und Buchhaltung. Zu dem Kleinunternehmen gehören drei Festangestellte für den Putz- und Lieferservice, den Einkauf und die Teigproduktion. Vierzehn Crêpisten und Crêpeusen wechseln sich zurzeit an den heißen Platten ab. An diesem Tag übernimmt eine Jungarchitektin die zweite Schicht. Man begrüßt sich mit einem Wangenküsschen.

Meist sind es Schüler oder Studenten, die die Teigrechen kreisen lassen. "Man sieht gleich, ob sich einer schon mal selbst was zu essen gemacht hat", sagt Hölscher. "Aber es haben noch alle gelernt." Geübt wird im Firmenlager in der Reinsburgstraße, wo jeden Morgen um sechs der Teig für den Tag gemacht wird. Hundert Probecrêpes brauche ein Neuling mindestens, bis man ihn unter die Leute lassen kann. "Nach tausend kann er's im Schlaf."

Hölscher erwartet ein offenes Wesen von seinen Bäckern, und dass sie zu den Dreistundenschichten mit leerer Blase erscheinen. Klo gibt es keines. Haben die Lehrlinge ihren Crêpes-Knigge verinnerlicht, kann das süße Leben losgehen. Die wichtigsten Benimmregeln: nicht schnäuzen, so wenig wie möglich mit den Händen berühren, Nuss-Nougat-Finger nicht an der Schürze abputzen. Ganz essenziell: Marmeladenglas, Eierlikörflasche, Zimtschale - alles muss immer an derselben Position stehen, sonst herrscht rasch Kuddelmuddel. Die Teigschüssel steht links, weil Hölscher Linkshänder ist und sie daher schon immer links stand. So bleibt es jetzt auch.

Glücklich, wohlhabend und frei


"Jungs, die im Chaos hausten, lernen bei uns, sauber und pünktlich zu arbeiten", sagt der Chef. Manche Mädchen zierten sich, das weiße Latzschürzchen zu tragen, weil sie darin nicht schön genug aussehen. "Aber ich bestehe darauf. Das formt den Charakter." Viele Mitarbeiter sind Kinder oder Enkelkinder von Freunden. "Wir begleiten sie eine Weile durchs Leben, durch Schulzeit, Abitur, Studium."

Hölscher und Specht haben der Lockung widerstanden, Filialen zu gründen. "Expansion bedeutet mehr Arbeit und mehr Risiko." Davon ist er kuriert. "Ich rannte lange dem Erfolg hinterher. Dabei war das Glück hinter mir her. Erst als ich stehen blieb, konnte es mich einholen", sagt Hölscher. Ein Bruder brachte es zum FDP-Bundestagsabgeordneten, der zweite war Prokurist, der dritte Amtsgerichtsdirektor. Er sieht sich als schwarzes Schaf. "Aber ich bin auch glücklich und wohlhabend. Und frei."

Und so kreist sein berufliches Glück seit drei Jahrzehnten um süßen und salzigen Teig, um Nuss-Nougat und Emmentaler Käse, um Crêpes mit Pflaumenmus oder "mit nix". In seiner Küchenfirma sei er nie ein guter Verkäufer gewesen, sagt Hölscher. "Wenn die Kunden zögerten, war ich nicht zupackend genug und sagte nur: überlegen Sie sich's noch mal." In seinem Crêpesstand habe er nie etwas anpreisen, nie jemanden überreden müssen: "Ich stehe da, und die Leute kommen. Ein ehrliches Geschäft."