C.S. Foresters Kriminalroman „Grausame Schuld“ spielt zwar im London der 1920er Jahre. Doch wie der damals blutjunge Autor die Chronik einer angekündigten Katastrophe aufbaute, ist von zeitloser Erzählqualität.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Man muss sich das beim Lesen immer wieder vor Augen führen: dieses Buch hat ein Mittzwanziger geschrieben, und es ist bald neunzig Jahre alt. Doch so reif es schon bei seiner Entstehung war, so modern ist es im Laufe der Zeit geblieben. „Grausame Schuld“, C.S. Foresters frühes Meisterwerk, ist ein Roman von bestürzender Tiefe. Ein Krimi, in dem das Motiv von Schuld und Sühne bis an die Schmerzgrenze ausgereizt ist.

 

Forester – eigentlich bekannt geworden mit seinen abenteuerlichen Horatio-Hornblower-Romane – erzählt die Geschichte eines gewissen Marble, Mr Will Marble. Der ist ein subalterner Bankangestellter, dessen Tragik zunächst nur darin besteht, dass er stets mehr Geld ausgibt als er verdient. Seine Frau, die etwas einfältige Annie, unterstützt ihn darin nach schwachen Kräften, und so ist es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis die vierköpfige Familie wirtschaftlich am Ende ist.

Über Nacht reich

Doch dann taucht unverhofft Marbles vermögender Neffe aus Australien auf, dessen Eltern beide gestorben sind. Marble ergreift die Gelegenheit auf eine größere Summe geraubten Geldes beim Schopf und bringt den Besucher noch am selben Abend um. Mit einem Teil der Beute bezahlt er seine Schulden, einen anderen setzt er mittels eines Strohmanns an der Börse ein. Der Coup gelingt und über Nacht ist die Familie Marble sehr, sehr vermögend.

Doch was heißt da noch Familie? Diesen Begriff verdient der Zusammenschluss von Vater, Mutter, Sohn und Tochter allenfalls in verwaltungstechnischer, nicht aber in sozialer Hinsicht.

Von Maupassant’scher Erbärmlichkeit

Waren die Marbles senior vorher schon ein beschränktes Ehepaar von Maupassant’scher Erbärmlichkeit, so divergieren nach dem Mord die Darsteller vollends in alle Richtungen auseinander. Der Alte pflegt seinen Alkoholismus und bewacht ängstlich den Garten hinterm Haus, in dem er die Leiche verscharrt hat. Seine Frau kommt mit dem plötzlichen Konsumzwang nicht zurecht, zumal ihr Mann aus nahe liegenden Gründen weder Domestiken noch einen Umzug in eine bessere Gegend erlaubt. Der Sohn, eigentlich ein aufgeweckter Teenager, wird zum hoffnungslosen Einzelgänger, weil er auf eine Eliteschule muss, in der er keinen Anschluss findet. Nur seine etwas jüngere Schwester hat auf ihrem Internat keine Probleme. Sie wird umgehend zum Abbild einer bildhübschen höheren Tochter, die ganz genau weiß, worauf es im Leben ankommt.

Gefangene ihrer Biografien

Dass die Katastrophe spätestens in der Mordnacht angelegt ist, wundert einen als Leser nicht. Zu sehr sind die Figuren – mit Ausnahme der Tochter – Gefangene ihrer Biografien, als dass irgendwo ein Heil möglich wäre. Doch wie Forester Stück um Stück aufschichtet, wie er folgerichtig dem Drama seinen Lauf lassen muss, ist große Erzählkunst. Denkt man sich den technischen Fortschritt hinzu und den gesellschaftlichen Komment der 1920er Jahre weg, so könnte der Roman ohne weiteres auch in der Gegenwart spielen. Als bittere Parabel auf Gier, Kleingeistigkeit und Niedertracht.

C.S. Forester: „Grausame Schuld“. Roman. Aus dem Englischen von Britta Mümmler. Dtv, München. 238 Seiten, 14,90 Euro. Auch als E-Book, 12,99 Euro.